100 Jahre Groß-Berlin
Wie die Großstadt Lichtenberg zum Berliner Bezirk wurde
Professor Jürgen Hofmann ist Historiker, Mitglied der Leibnitz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin und Autor diverser Publikationen – darunter auch Bücher über Lichtenbergs Geschichte. Für unsere Sonderausgabe zum 100. Jubiläum der Bildung von Groß-Berlin sprachen wir mit dem Experten über das Lichtenberg jener Zeit.
Lichtenberg ist heute ein Bezirk mit zehn Ortsteilen und circa 290 000 Einwohnern. Wenn wir den Groß-Berliner Bezirk von 1920 betrachten – über welche Region und wie viele Menschen sprechen wir?
Lichtenberg hatte schon seit 1907 Stadtrecht, zum Zeitpunkt der Gründung Groß-Berlins sprechen wir von den Dimensionen einer Großstadt. Sie umfasste die Reste des Lichtenberger Dorfs, die städtischen Siedlungen nördlich und südlich der Frankfurter Allee und sogar Quartiere innerhalb des heutigen S-Bahnrings. 1920 kamen die Landgemeinden Friedrichsfelde (mit Karlshorst), Biesdorf, Kaulsdorf, Mahlsdorf und Marzahn hinzu, außerdem die Gutsbezirke Biesdorf, Hellersdorf und Wuhlgarten. Alles zusammen wurde zum 17. Verwaltungsbezirk von Groß-Berlin. Als Namensgeber wählte man den Ortsteil mit dem größten Gewicht. Der Bezirk reichte bis an die östliche Stadtgrenze und hatte um die 183 000 Einwohner. Die weitaus meisten lebten auf dem Gebiet der ehemaligen Stadt Lichtenberg. Was dazu kam, war eher dünn besiedelte, landwirtschaftliche Fläche und Wasser.
Was war mit Hohenschönhausen und den Dörfern Wartenberg, Falkenberg und Malchow? Die zählen heute ja auch zum Bezirk Lichtenberg.
Die Landgemeinden beziehungsweise Gutsbezirke Hohenschönhausen, Malchow, Falkenberg und Wartenberg wurden 1920 dem 18. Berliner Verwaltungsbezirk zugordnet: Weißensee. Die Struktur ändert sich in den 1970er-Jahren, als Hohenschönhausen großflächig bebaut wurde.
Proletarisch bis wohlhabend
Konzentrieren wir uns also auf den 17. Verwaltungsbezirk: Was machte Lichtenberg aus? Wer wohnte hier? Wie war die soziale Lage?
Lichtenberg war damals ganz eindeutig proletarisch geprägt. Sicherlich gab es ein paar Kaufleute und Handwerker, in den neu hinzu gewonnenen Gemeinden lebten Landwirte und Gutsbesitzer. Aber die Masse war proletarisch situiert, arbeitete in Berliner Fabriken oder in den Industriebetrieben vor Ort. Etwas wohlhabendere Einwohner hatten Friedrichsfelde und die Siedlung Karlshorst, den Marzahner Gemüsebauern und Biesdorfer Grundstücksbesitzern ging es gemessen an den meisten Lichtenbergern verhältnismäßig gut. Sie verkauften ihre Ländereien für die Erweiterung von Bahnanlagen oder waren groß im Geschäft als Gemüselieferanten für die Metropole. In Biesdorf lebte man außerdem vom Ausflugsverkehr.
Was brachte der Zusammenschluss zu Groß-Berlin für die ehemalige Stadt Lichtenberg?
Eigentlich änderte sich nicht viel. Es gab schon seit 1912 den sogenannten Zweckverband von Groß-Berlin, zu dem die Stadt Lichtenberg gehörte. Ökonomisch waren die darin zusammengeschlossenen Gemeinden schon miteinander verflochten. Die Verwaltung musste sich nach der Fusion allerdings auf das System der Zweigliedrigkeit einstellen. Das heißt: Ein Teil der Kompetenzen verblieb beim Bezirk, ein Teil musste an den Magistrat abgegeben werden. Den früheren Gemeinden und Städten wurde damit nicht die komplette Verfügungsgewalt weggenommen, das besänftigte Vorurteile und Gegner. Außerdem sah man ein, dass sich in einer Region mit so vielen Menschen bestimmte Dinge besser vor Ort entscheiden lassen.
Wissen Sie von Nachteilen oder Problemen, die sich für Lichtenberg durch die Fusion ergaben?
Schwerwiegende Probleme sind nicht überliefert. Natürlich gab es Schwierigkeiten, aber die rührten eher aus der desolaten Wirtschaftssituation der Nachkriegszeit und den politischen Nachwehen der Novemberrevolution her. Vieles wurde liegen gelassen, als Inflation und Wirtschaftskrise einsetzten, aber diese Probleme erschütterten die ganze Stadt, nicht nur Lichtenberg.
Oskar Ziethen – Namensgeber des bekannten Krankenhauses – war damals Bürgermeister der Stadt Lichtenberg. Wie stand er zum Zusammenschluss?
Ziethen war ein Befürworter und Förderer von Groß-Berlin. Das zeigt nicht zuletzt seine Mitgliedschaft im Verbandsausschuss, dem ständigen Präsidium des Zweckverbandes, dem er von Anfang bis Ende angehörte. Es gibt eine Stellungnahme von ihm aus dem Jahr 1912, in der er die Hoffnung äußert, der Zweckverband möge das „kommunale Organ“ werden, das „die gemeinsamen Interessen Groß-Berlins“ regelt.
Früh gute Infrastruktur
Zu diesen Interessen zählte wohl auch der Ausbau beziehungsweise Anschluss an die öffentlichen Verkehrsmittel. Wie stand es denn darum?
Tatsächlich wurde Oskar Ziethen in den Aufsichtsrat für die Berliner Straßenbahn gewählt, das damals wichtigste Unternehmen des Nahverkehrs. Der weltweit größte Straßenbahnhof befand sich an der heutigen Siegfriedstraße. Generell war Lichtenberg schon gut angeschlossen. Die Stadt- und Ringbahn fuhr auf der Strecke des heutigen S-Bahnrings, mit Haltestellen in Stralau-Rummelsburg – heute das Ostkreuz – an der Frankfurter Allee und am Zentralviehhof. Die Ostbahn Richtung Küstrin hielt in Stralau, Lichtenberg-Friedrichsfelde, Biesdorf, Kaulsdorf und Mahlsdorf. An die Wriezener Bahn war der Magerviehhof in Marzahn angeschlossen. Dazu kamen Vorort-Züge und Straßenbahnen. Durch Boxhagen-Rummelsburg fuhr eine Tram, die das Rathaus dort unterquerte. Es gab die sogenannte Flachbahn, die die Warschauer Brücke mit der Möllendorffstraße bis zum heutigen Roedeliusplatz verband. 1923 konnte man von Wilmersdorf bis zur Hubertusstraße mit einer Linie durchfahren. Friedrichsfelde war schon seit 1910 mit Oberschöneweide verbunden. Busse spielten noch keine große Rolle. Die Anfänge waren im Ersten Weltkrieg zum Erliegen gekommen. Ende der 1930er-Jahre war Lichtenberg dann an die U-Bahn angeschlossen.
Welche heute noch bekannten Betriebe hatte der Industriestandort damals schon?
Etliche. Elektrokohle Siemens und Co. etwa saß schon ab 1872 in der Herzbergstraße, es war der Vorläufer von Siemens Plania und dem späteren VEB Elektrokohle. Nicht weit entfernt stand das Margarinewerk Berolina. Die Automobilvertriebsgesellschaft AGA hat nicht nur Autos verkauft sondern auch gebaut. In der Rittergutstraße, heute Josef-Orlopp-Straße, entstanden die Harras-Werke, die Fahrkartenautomaten und später Haushaltsgeräte herstellten. Unweit davon baute die Konsum Genossenschaft ab 1900 einen Standort, den sie ab 1910 schrittweise erweiterte. Die Gebäude gibt es noch heute.
Vielen bekannt ist sicherlich die Knorrbremse in der Neuen Bahnhofstraße, die bis 1938 zu Lichtenberg gehörte. Der Betrieb hat sich 1908 dort angesiedelt und 1922 in der Viktoriastadt moderne Gebäude gebaut. Die Arbeiter der Knorrbremse waren hoch qualifiziert und politisiert. Dort gab es einen der ersten Arbeiter- und Soldatenräte, die sich damals formierten.
Bierkneipen und Wassersport
Und wie stand es um das kulturelle Leben? Wo vergnügten sich die Lichtenberger, wenn sie es sich überhaupt leisten konnten?
Vor allem gab es massenweise Bierkneipen – die Wohnstuben der kleinen Leute. Manche Gaststätten hatten Tanzsäle, in anderen wurde Kinofilme gezeigt. Die ersten Lichtspielhäuser entstanden. Biesdorf und Karlshorst waren für ihre Ausflugslokale bekannt. Man fuhr mit dem Kremser zum Feiern und Schwofen hin. Eine besonders beliebte Gaststätte stand am Rummelsburger See: Das Café Bellevue hatte eine Terrasse, einen großen Veranstaltungssaal und eine Kahnausleihe. Mit der sich ausbreitenden Industrie auf der Stralauer Halbinsel verloren See und Café aber rasch an Attraktivität. Insgesamt war Lichtenberg nicht sonderlich für sein kulturelles Leben bekannt.
Gab es denn irgendetwas, für das Lichtenberg in jener Zeit stadtweit oder über Berlins Grenzen hinaus berühmt war?
Natürlich! Die Pferderennbahn für Hindernis- und Jagdrennen in Karlshorst, die spätere Trabrennbahn. Die war ein Anziehungspunkt für besser betuchte Leute aus der ganzen Region.
Autor:Berit Müller aus Lichtenberg |
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