Erfolgreich ohne Zukunft?
Fahrradfirmen aus der Josef-Orlopp-Straße bangen um Werkstätten

Florian Haeussler in der Werkstatt, die er sich mit Kristin Heil (rechts) und Maßrahmen-Bauer Thomas Becker teil. | Foto: Müller
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  • Florian Haeussler in der Werkstatt, die er sich mit Kristin Heil (rechts) und Maßrahmen-Bauer Thomas Becker teil.
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Sie setzen aufs Handwerk und auf Hochwertigkeit, mitunter arbeiten sie an Drehbänken und Fräsen aus den 1960er-Jahren. Damit sind sie so erfolgreich, dass Kunden aus ganz Europa Schlange stehen: Im Gewerbegebiet Herzbergstraße hat sich eine Reihe kleiner, spezialisierter Fahrradfirmen angesiedelt. Wie lange sie bleiben können, ist aber ungewiss.

Im Sommer 2006 hat Florian Haeussler Semesterferien vom Produktdesign-Studium und eine Schnapsidee: In Ungarn setzt er sich auf ein Mountainbike, um bis nach Istanbul durchzustrampeln – über 1000 Kilometer auf einem für solche Strecken völlig unpassenden Gefährt. „Das war meine erste Radreise überhaupt und die Initialzündung“, erzählt er. „Da hat sich meine Leidenschaft entwickelt.“ Die Begeisterung für lange Reisen auf dem Sattel blieb, die Unzufriedenheit mit dem Untersatz auch. Denn selbst an den besser geeigneten Tourenbikes gab es ständig etwas auszusetzen. Dran herumgebastelt hat er immer. „Irgendwann war klar, dass ich mir selbst ein Rad bauen muss.“

So sattelte der junge Produktdesigner buchstäblich um, absolvierte Kurse im Schweißen, las stapelweise Fachbücher und gründete 2012 seine Firma „Fern Fahrräder“. Vor fünf Jahren ist er mit seiner Manufaktur für Fahrrad-Rahmenbau auf das alte Konsumgelände an der Josef-Orlopp-Straße gezogen. Dort teilt er sich heute auf 400 Quadratmetern Werkstatt- und Büroräume mit Thomas Becker und Kristin Heil – beide Kleinunternehmer im Fahrrad-Handwerk wie er. Während der eine unter dem Namen „Meerglasbau“ ebenfalls Maßrahmen baut, hat sich die andere aufs Zubehör für Radreisende spezialisiert. „Gramm-Tourpacking“ fertigt individuelle Gepäcktaschen an.

Das Trio ist so erfolgreich, dass Kunden aus ganz Europa extra nach Lichtenberg kommen. Und sich in Geduld üben müssen. Auf einen Maßrahmen oder sogenannten Komplettradaufbau warten sie ein Jahr; Reparatur- und Spezialwünsche sind aktuell gar nicht zu erfüllen. „Die Szene boomt, und was wir machen, hat sich herumgesprochen“, erklärt sich Thomas Becker den großen Zuspruch. „Aber wir sind auch zum richtigen Zeitpunkt ins Geschäft eingestiegen.“

Es ist ein kleines Fahrradfirmen-Netzwerk, zu dem neben diesen drei noch ein paar weitere Manufakturen aus dem Gewerbegebiet Herzbergstraße und ganz Lichtenberg zählen. Man trifft sich zum Stammtisch, tauscht Ideen und Maschinen aus, besucht gemeinsam Fachmessen. Was die Betriebe auch verbindet: Alle setzen auf Nachhaltigkeit und vermeiden Billigexporte – etwa aus Fernost. Ein Großteil der Stoffe, die Kristin Heil vernäht, kommt aus Dresden; Verschlüsse bezieht sie aus Hamburg. „Ich verarbeite keinen Schrott“, sagt sie. „Das Material muss hochwertig sein.“ Was sie nicht selbst fertigen, besorgen sich auch Florian Haeussler und Thomas Becker möglichst im Lande, gern aus der direkten Nachbarschaft. Eine Firma im Gewerbegebiet produziert Anbauteile für die Rahmen, ein Betrieb übernimmt die Pulverbeschichtungen.

Alles könnte nahezu perfekt sein, wäre da nicht die prekäre Standortsituation. „Was uns vollkommen fehlt, ist Planungssicherheit für unsere Firmen“, sagt Florian Haeussler. „Jeden Tag werden potentielle Investoren für Luxus-Apartments über das Gelände geführt. Der Rausschmiss aus unseren Werkstätten hängt wie ein Damoklesschwert über unseren Köpfen.“

Das Problem: Wie die meisten kleinen Betriebe auf dem Gelände der alten Konsumgenossenschaft haben auch die drei Fahrradfirmen Mietverträge mit einer Kündigungsfrist von sechs Wochen. Das Areal mit den Gebäuden einer ehemaligen Fleischerei, einer Bäckerei und Büroräumen gehört der Capricornus Capital Management GmbH. Die will eigentlich, dass dort Büros und Wohnungen entstehen. Was das Bezirksamt Lichtenberg bislang ablehnt. Deshalb gilt für das Gebiet seit Februar eine sogenannte Veränderungssperre die nur Nutzungen erlaubt, die den Zielen des Bebauungsplans 11-131 entsprechen. Dieser B-Plan ist in Arbeit. „Das Hauptziel ist die gewerbliche, produktionsgeprägte Nutzung“, sagt Birgit Monteiro (SPD), Stadträtin für Wirtschaft und Stadtentwicklung. Eine Kündigung zugunsten von Luxusapartments müssten die Werkstätten dann nicht fürchten. „Ich kann den Firmen nur raten, das Gespräch mit den Fraktionen der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) zu suchen, denn die entscheidet über Bebauungspläne. Offensichtlich hat das produzierende Gewerbe nicht gerade die stärkste Lobby.“

Der Bezirk kann mit diesem Instrument ohnehin nur die Rahmenbedingungen setzen. Die Mietverträge kann er nicht sichern. Der Eigentümer genieße Vertragsfreiheit und könne sich selbst aussuchen, welche Mieter er in seinem Objekt aufnimmt, so die Stadträtin. Der beste B-Plan könne nicht verhindern, dass der Eigentümer Interessenten findet, die eine höhere Gewerbemiete zahlen.

Die Zukunft für die Fahrradfirmen bleibt also ungewiss. Was das Trio nicht zuletzt wurmt, weil alle drei viel Geld in die Werkstatträume gesteckt haben. „Eine Infrastruktur gab es so gut wie gar nicht“, erzählt Kristin Heil. „Strom, Wasser, Abwasser, Heizung - alles mussten wir in Eigeninitiative verlegen und finanzieren.“ Mehr als 30 000 Euro haben die Partner ausgegeben.

„Wir würden dennoch gern weiter investieren, unsere Werkstätten ausbauen, Mitarbeiter einstellen“, sagt Florian Haussler. „Doch die extrem unsichere Situation bremst uns aus. Jede weitere Investition stellt ein nicht kalkulierbares Risiko dar, da wir nicht wissen, ob wir uns in einem Jahr wieder eine neue Bleibe suchen müssen.“ Was im schlimmsten Fall sogar das Aus für die Fahrradfirmen bedeuten könnte. „Ein Umzug bringt Verdienstausfall und hohe Kosten für den Transport der schweren Maschinen mit sich. Das kann sich auf 10 000 Euro pro Kopf summieren. Und das schafft keiner von uns.“

Autor:

Berit Müller aus Lichtenberg

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