Macht er Urlaub, fehlt etwas im Kiez
Canan Karacali betreibt seit 15 Jahren einen besonderen Spätkauf an der Karl-Marx-Straße
Er hält die Nacht am Laufen. Wenn andere Läden längst geschlossen sind, versorgt Canan Karacali die Nachbarn und Passanten mit Getränken, Süßigkeiten, Knabberzeug und Rauchwaren. Sein Späti an der Ecke Karl-Marx- und Reuterstraße ist jedoch weit mehr, nämlich eine unverzichtbare Anlaufstelle für die Kiezbewohner.
Canan Karacali ist geduldiger Zuhörer, wenn es einen Liebeskranken nicht mehr in den eigenen vier Wänden hält. Zahlungsunfähige Stammkunden dürfen anschreiben lassen. Der angetrunkenen Nachbarin, die den Taxifahrer nicht entlohnen kann, streckt er die Summe vor. Dem Asthmatiker rät er dringend, mit dem Rauchen aufzuhören, er möchte ihm lieber keine Zigaretten verkaufen. Er verwahrt Hausschlüssel, hilft mit einer Kopfschmerztablette, leitet Nachrichten weiter, bringt Menschen zusammen. Das alles mit tiefer Gelassenheit, Freundlichkeit und natürlicher Autorität. Macht er Urlaub, fehlt etwas.
Den Späti hat Canan Karacali vor 15 Jahren eröffnet. Auch zuvor arbeitete er fast immer nachts. Nach Berlin kam er 1982, gerade einmal 18 Jahre alt. Seine kaufmännische Ausbildung in der Türkei musste er abbrechen, die politische Situation unter der Militärjunta war unerträglich geworden. Der erste Job war aus der Not geboren. Weil Canan auf seine deutsche Arbeitserlaubnis warten musste, verdingte er sich in einem amerikanischen Club in Zehlendorf. Die Alliierten genossen Sonderrechte, hatten eine eigene Arbeitsvermittlung und stellten den jungen Mann ein. Canan erinnert sich an viele Partys der Militärs, allerdings auch daran, wie wenig er in der Küche verdiente.
Kein Frühaufsteher
Er wechselte in eine Batteriefabrik, setzte sich als Betriebsrat für bessere Arbeitsbedingungen ein. „Aber die großen Fische fressen immer die kleinen“, sagt er. Er stieg um und wurde Anfang der 2000er-Jahre Taxifahrer. Auch jetzt entschied er sich für die Nachtarbeit. Er sei nun mal kein Frühaufsteher und zu später Stunde sei auch der Verkehr ruhiger, sagt er. Die Wartezeiten vertrieb er sich mit Lesen, Radio hören und Gedichte schreiben.
Angst habe er eigentlich nie gehabt. Auch nicht vor den beiden glatzköpfigen jungen Männern, die kein anderer Kollege am Bahnhof Zoo mitnehmen wollte. Canan fuhr sie bis in ein kleines Dorf bei Erfurt. „Du kannst nicht immer nach dem Äußeren gehen“, sagt er. Vorsichtig war er trotzdem, einen ließ er vorne sitzen. „Ich war athletisch, zumindest den hätte ich schaffen können.“ Alles ging glatt, es gab sogar gutes Trinkgeld.
Mit Schweigepflicht
Großzügig zeigte sich auch eine Frau, die nach dem Einsteigen erst einmal auf "die Türken" schimpfte, weil sie schlechte Erfahrungen mit einem Mann gemacht hatte. Canan wollte sie davon überzeugen, dass es falsch ist zu verallgemeinern. „Ich glaube, ich konnte ihre Denkweise durchbrechen. Es ist mir wichtig, etwas gegen Ausländerhass zu tun.“ Auch mit Politikern machte er Erfahrungen, denn er war „Bundesstagsfahrer“ mit spezieller Genehmigung und Schweigepflicht. An den ehemaligen Arbeitsminister Norbert Blüm erinnert er sich beispielsweise gut. „Er war überhaupt nicht hochnäsig oder so“, erzählt Canan. Ganz anders ein bekannter Politiker einer anderen Partei, dessen Namen er nicht nennen will. Ihn holte er nachts aus einer berühmten Kneipe ab. Der Betrunkene wollte Canan 20 Cent Trinkgeld geben. Der lehnte freundlich ab: „Behalten Sie das Geld, vielleicht brauchen Sie es ja mal dringend zum Telefonieren.“ Überhaupt seien viele wohlhabende Menschen geizig, die kleinen Leute gäben mehr.
Nach mehreren Jahren im Taxi versuchte Canan es mit einer Taverne, half seinem Bruder in dessen Nachtclub, arbeitete in einem Reisebüro. Doch nichts hatte Bestand. Also entschloss er sich zum Späti. Um den kümmert er sich ganz allein, transportiert die Einkäufe in seinem klapprigen Kleinwagen, sitzt bis zum frühen Morgen hinter dem Tresen. Nur manchmal legt er sich für zehn Minuten auf das Sofa im winzigen Nebenzimmer.
Klar, manchmal fühle er sich schon etwas einsam, räumt er ein. Aber nur, bis der nächste Kunde, Nachbar oder Kollege vom Restaurant nebenan auf einen Schwatz vorbeischaut. „Und ich lerne hier so viele Leute kennen, besonders nachts“, sagt er.
Canan Karacali hat es 2019 sogar auf die Kinoleinwand geschafft. Eine Kundin war so beeindruckt, dass sie ihm eine kleine Rolle in der Tragikomödie „Frau Stern“ vermittelte. Er spielte sich selbst, einen türkischen Späti-Betreiber. „Anatol Schuster, der Regisseur, hat gesagt, ich wäre ein Naturtalent.“ Beim Gedanken daran steigen ihm jetzt noch Freudentränen in die Augen.
Autor:Susanne Schilp aus Neukölln |
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