„Dieses Schreien höre ich heute noch“
Eine Nacht in der Einsatzleitzentrale der Polizei Berlin am Platz der Luftbrücke

Renan Yilmaz* an seinem Arbeitsplatz. Nur einmal waren in der Einsatzleitzentrale alle 60 Notrufleitungen besetzt: am 5. Oktober 2017, als das Sturmtief "Xaver" über Berlin hinwegfegte. | Foto: Philipp Hartmann
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  • Renan Yilmaz* an seinem Arbeitsplatz. Nur einmal waren in der Einsatzleitzentrale alle 60 Notrufleitungen besetzt: am 5. Oktober 2017, als das Sturmtief "Xaver" über Berlin hinwegfegte.
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Es ist 21 Uhr an einem Sonnabend Anfang März. Die Gänge im Berliner Polizeipräsidium am Platz der Luftbrücke sind menschenleer. Nur in der Einsatzleitzentrale (ELZ) herrscht reges Treiben. Hier befindet sich der Arbeitsplatz von Renan Yilmaz*. In den nächsten vier Stunden lässt uns der Polizeiobermeister teilhaben an seinem Job, der nicht immer einfach ist.

Wann immer in der Stadt jemand die 110 wählt, gehen Yilmaz und seine Kollegen ans Telefon. Sie müssen auf jede Situation vorbereitet sein. Die richtigen Worte finden, auch wenn die Person am anderen Ende der Leitung panisch oder aggressiv ist. Und schnell entscheiden, ob Streifenwagen, Notarzt oder Feuerwehr losgeschickt werden müssen. In den Nächten am Wochenende gehen die meisten Notrufe ein. Im Schnitt sind es täglich 3306. Das sind 138 pro Stunde. Yilmaz ist 38 Jahre alt und hat viel Erfahrung. Vor zwölf Jahren fing er seine Ausbildung bei der Berliner Polizei an. Neben Deutsch spricht er Türkisch und Englisch. Fast sieben Jahre arbeitete er bei der Bereitschaftspolizei, wurde beispielsweise bei Demos und Fußballspielen eingesetzt. Bei einer Hospitation kam er vor dreieinhalb Jahren in die ELZ und ist geblieben. „Hier wird es nie langweilig. Du bist immer am aktuellen Geschehen.“ Wegen der festen Arbeitszeiten kann er den Alltag besser planen. Für viele Polizisten ist der Job hier nichts. „Ich glaube schon, dass man eine ruhige Person sein muss, um einen kühlen Kopf zu bewahren“, sagt er. „Du musst ja auch die Aufregung der Kollegen kompensieren, die da draußen mit Adrenalin zum Einsatz fahren, und trotzdem alle Informationen weitervermitteln. Das wird von dir auch erwartet.“

Alarmierung mit nur wenigen Klicks

Yilmaz muss das Gespräch unterbrechen, weil die Anzeige auf seinem Display rot blinkt. Das Signal, dass ein Notruf reinkommt. Er setzt das Headset auf und klickt auf Annehmen. Ein Mitarbeiter einer Sicherheitsfirma meldet den Einbruch in eine Bankfiliale in Gesundbrunnen. Vor Yilmaz stehen drei Bildschirme, die das Polizeieinsatzleitsystem (PELZ) anzeigen. Darin sind ein elektronischer Stadtplan, laufende Einsätze sowie andere dienstlich relevante Informationen zu sehen. Yilmaz trägt die wichtigsten Angaben zu Einsatzort, Name des Anrufers, Anlass und Sachverhalt ein. Die Rufnummer wird automatisch erfasst. Neben einem Funkwagen könnte er mit nur wenigen Klicks auch Feuerwehr und Notarzt alarmieren. In diesem Fall ist das nicht notwendig. Die Situation soll sich eine Streife vor Ort anschauen. Nachdem Yilmaz vom Notrufannahmeplatz aus den Einsatz angeordnet hat, landen die Infos bei einem Kollegen an einem der Einsatzleitplätze auf der anderen Seite des Großraumbüros. Dieser funkt umgehend die Beamten im zuständigen Abschnitt an, von denen es in Berlin 37 gibt. In jeder Schicht wechseln sich die Kollegen an beiden Plätzen ab. Wenn jemand einen Kaffee holen oder zur Toilette möchte, muss immer ein anderer übernehmen.

Der nächste Anruf: Eine Frau sagt, ein Mann aus der Wohnung über ihr habe gedroht, sie abzustechen. Yilmaz schickt wieder einen Funkwagen los. Im System setzt er diesmal ein Häkchen bei „Eigensicherung“. Das bedeutet, dass die Polizisten, die zum Einsatzort fahren, den Hinweis erhalten, besonders vorsichtig zu sein, wenn sie anklopfen.

Anruf aus Versehen

„Ich weiß ja nicht, was die Kollegen dort erwartet. Hinter der Tür könnte jemand mit einer Schere, einem Samurai-Schwert oder einer Machete stehen“, erklärt er. Danach meldet eine Frau eine Massenschlägerei am Innsbrucker Platz. Dorthin muss sich ein größeres Polizeiaufgebot auf den Weg machen. Der nächste Anrufer erzählt, dass ihm die Papiere aus der offenen Tür seines Autos geklaut wurden. Yilmaz schreibt eine Gesprächsnotiz und bittet den Mann, in der nächstgelegenen Wache Anzeige zu stellen. Wieder blinkt es rot. Ein Mann ruft aus seiner Wohnung am Boxhagener Platz an. „Meine Freundin hat einen Nervenzusammenbruch.“ Ihre lauten Schreie dröhnen durch den Hörer. Eine Streife wird vorbeischauen. Danach ist eine Frau dran: „Sorry, mein kleiner Neffe hat aus Versehen den Notruf gewählt.“ Aus dem Hintergrund ruft eine Kinderstimme „hallo Polizei“. Yilmaz antwortet kurz „hallo“, dann legt er auf. Auch so ein Telefonat geht als „Spaßanrufer“ in die Statistik ein. „Ein Klassiker“, meint er. Häufig würden die Anrufer außerdem Sachverhalte melden, die nicht in der Zuständigkeit der Polizei liegen, zum Beispiel bei Müllsäcken im Park. Problematisch seien vor allem die Verwirrten, die sich Straftaten ausdenken, sowie viele Daueranrufer. „Die wollen einfach nur eine Stimme hören und blockieren damit die Leitung.“ Wer den Notruf missbraucht, handelt sich eine Strafanzeige ein. Jedes Gespräch wird im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten aufgezeichnet und gespeichert, bei anhängigen Gerichtsverfahren auch über einen längeren Zeitraum.

Inzwischen ist es 1 Uhr. Unser Besuch endet. Renan Yilmaz hat noch fünf Stunden vor sich. Nach Dienstschluss wird er sich wie immer auf sein Rad setzen und die 25 Minuten bis zu seiner Wohnung fahren. Ganz bewusst, um abzuschalten. „Das gelingt mir ganz gut. Ich bekomme dabei einen freien Kopf.“ Nur sehr selten beschäftigt ihn ein Telefonat später noch. Am tragischsten fand er den Notruf einer Mutter, die ihr Neugeborenes in den Armen hielt. „Sie hat geschrien, dass ihr Baby nicht mehr atmet. Dieses Schreien höre ich heute noch.“ Normalerweise erfährt er nicht, wie die Sache ausgeht. In diesem Fall hörte er es durch Zufall am nächsten Tag von einem Kollegen. Der Säugling konnte gerettet werden.

*Name geändert

Autor:

Philipp Hartmann aus Köpenick

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