Stellungnahme der Bürgerinitiative Berliner Stadtbibliotheken zum
Rahmenkonzept für die Bibliotheksentwicklungsplanung Berlin

Bona-Peiser-Bibliothek in Kreuzberg - 1964 für die Otto-Suhr-Siedlung eröffnet, 2014 wegen Personalkürzungen geschlossen (Frauke Mahrt-Thomsen, 1.1.2007)
  • Bona-Peiser-Bibliothek in Kreuzberg - 1964 für die Otto-Suhr-Siedlung eröffnet, 2014 wegen Personalkürzungen geschlossen (Frauke Mahrt-Thomsen, 1.1.2007)
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Auch auf Landesebene wird - wie bereits im Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf abgeschlossen - an einer Bibliotheksentwicklungsplanung gearbeitet. Jetzt liegt dafür ein Rahmenkonzept vor, zu dem bis zum 24.9.2020 Kommentare abgegeben werden konnten. Die Stellungnahme der Bürgerinitiative Berliner Stadtbibliotheken wird im folgenden dokumentiert. Sie beschränkt sich - wegen des äußerst geringen Raums, der den Bürgern auf der Website des Senats für Kommentare eingeräumt wurde - auf den zentralen Punkt: welche Rolle Bücher nach Vorstellung des Rahmenplans zukünftig in den öffentlichen Bibliotheken haben sollen und welche sie nach Ansicht der Bürgerinitiative Berliner Stadtbibliotheken stattdessen haben müssen.
Ergänzung: Interview der jungen Welt mit einem Mitglied der Bürgerinitiative, erschienen am 24.10.2020, S. 2: »Im Konzept kommt das Wort ›Buch‹ nicht vor« 


Berlin treibt seinen öffentlichen Bibliotheken die Bibliothek aus

Kritik des Rahmenkonzepts für die Bibliotheksentwicklungsplanung Berlin

Das neue Rahmenkonzept für die Bibliotheksentwicklungsplanung Berlin legt die Defizite der öffentlichen Bibliotheken des Landes Berlin rückhaltlos offen. Das ist sein großes Verdienst. Hier wird eindrücklich erstmals offiziell zugegeben, was die Bürgerinitiative Berliner Stadtbibliotheken schon sehr viel früher als Problem aufgeworfen hatte.

Kapitel 6 des Rahmenkonzepts „Die Berliner Bibliotheken im Kennzahlenvergleich – Status Quo und Entwicklungsbedarf“ führt umfassend die Verwüstungen vor, die die neoliberalen Konzepte hinterlassen haben. Dabei werden entscheidende Defizite noch nicht einmal erwähnt – wie die berüchtigte Kosten-Leistungs-Rechnung und die Privatisierung der Buchauswahl fast aller öffentlichen Bibliotheken des Landes durch die Übergabe dieser originär gemeinnützigen Kernaufgabe vorwiegend an Buchkaufhäuser.

Es ist ein Verdienst des Rahmenkonzepts, anerkannte Standards für öffentliche Bibliotheken in Deutschland als Wegmarken fest einzuschlagen für eine zukünftige Bibliotheksentwicklung des Landes Berlin, die durch ein Bibliotheksgesetz abgesichert werden soll. In der zuständigen Arbeitsgruppe für Standards hat auch die Bürgerinitiative Berliner Stadtbibliotheken mitgearbeitet.

Bei allen Vorzügen sind die Defizite des Rahmenkonzepts jedoch nicht zu übersehen. Der Begriff „Rahmen“ sagt alles. Wo bleibt das Bild? Vieles scheint nur vage auf, ohne dass klare Prioritäten und reale Zeithorizonte angegeben werden. Es wird eine Flut von neuen Gutachten zu verschiedenen Teilbereichen gefordert, um überhaupt handeln zu können. Es werden keine Prioritäten gesetzt, keine Sofortmaßnahmen gegen die aktuelle Misere verlangt, kein notwendiger Ablauf der vorgeschlagenen Maßnahmen festgelegt. Es gibt also letztlich keine konkrete Strategie, nach der man jetzt handeln könnte.

Der Stellenwert des Buches

Die Konzepte der ersten Kapitel, die die Bibliothek vorwiegend zum sozialen Ort erklären, sind eigentlich nur Behauptungen, die legitimiert werden durch die genannten hohen Besucherzahlen – was zum ständig zitierten Schlagwort von der "meist besuchten kulturellen Einrichtung Berlins" wird. Dabei basieren ausgerechnet diese Besucherzahlen doch vor allem auf der Buch- und Medienausleihe, die aber in den Zukunftsplanungen des Rahmenkonzepts dann so gut wie nicht berücksichtigt wird. Das Rahmenkonzept verbirgt diese Tatsache schamhaft hinter dem Label „mediengeprägter Bildungs-, Kultur- und Begegnungsort“. So wird der eigentliche Zweck der öffentlichen Bibliothek zum Randphänomen erklärt. Das Wort „Buch“ ist ein Tabu. Auf den 103 Seiten kommt es nur im kleinen Kapitel zum Medienwandel vor. Wo bleibt da der Realitätsbezug?

Die Buchbestände der Bibliotheken sind niemals nur ein „Bücherlager“. Im Zentrum öffentlicher Bibliotheken steht immer der lesende Mensch. Auf ihn richten sich alle ihre Bemühungen. Dafür wurden sie von der Gesellschaft eingerichtet und mit Privilegien im Urheberrecht ausgestattet. Ihr Alleinstellungsmerkmal besteht in ihrer Aufgabe, den Marktmechanismus außer Kraft zu setzen und für ihr je eigenes Publikum einen Buch- und Medienbestand als Sammlung – also in einem sinnvollen Zusammenhang nach kulturellen und wissensbasierten Kriterien – aufzubauen, der gerade nicht allein von der jeweiligen Aktualität bestimmt ist.

Eine öffentliche Bibliothek als Ort ohne Bücher ist also auch in Zukunft nicht denkbar. Das gilt besonders in Deutschland. Denn unser Land ist eine Buchnation, die mit dem zweitgrößten Buchmarkt der Welt eine einzigartig vielfältige Verlagslandschaft hervorgebracht hat. Ein großer Teil des gesellschaftlichen Austauschs läuft bei uns über das Medium Buch. Es ist deshalb keine Übertreibung zu sagen: Das Buch ist das wichtigste Kulturmedium in Deutschland.

Unsere Gesellschaft unterhält mehrere Tausend gemeinnützige Einrichtungen, damit wirklich alle Zugang zu Büchern haben und dass dies nicht an die materiellen Verhältnisse des Elternhauses oder an den eigenen sozialen Status gebunden ist. Es ist ist eine zentrale Aufgabe der öffentlichen Bibliothek, dies zu gewährleisten.

Emanzipation oder Funktionalisierung?
Jörg Bong, ehemaliger verlegerischer Geschäftsführer der S. Fischer Verlage, hat unter dem Titel „Das Buch ist eine starke Waffe für die Demokratie“ pointiert zusammengefasst, warum das Medium Buch für unsere Gesellschaft unverzichtbar ist: „Das Buch vermag einer hyperkomplexen Realität zu genügen. Das schafft kein Tweet ... Das Buch ermöglicht die eingehende Auseinandersetzung. Es erlaubt, den Dingen auf den Grund zu gehen ... Es gestattet Zusammenhänge herzustellen. In Ruhe und mit Zeit ...

Das zentrale Stichwort heißt Emanzipation: dass der einzelne Mensch sich seiner selbst und der fremden Welt der Anderen bewusst und so zum sozialen Wesen wird. Dienen die im Rahmenkonzept vorgestellten sechs Leitideen diesem Ziel? Das muss verneint werden. Das Rahmenkonzept zielt viel zu sehr auf die Funktionalisierung der Menschen für fremde Zwecke; es zielt auf die Menschen als Objekte, die es zu unterrichten und zu schulen gilt. Deshalb kommt der lesende Mensch als souveränes Individuum auch nicht vor.

Wozu ein rein funktionales Verständnis der öffentlichen Bibliothek nach dem Muster des hier kritisierten Rahmenkonzepts führen kann, zeigt ganz praktisch der Bibliotheksentwicklungsplan für den Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf, zu dem dieBürgerinitiative Berliner Stadtbibliotheken ausführlich Stellung genommen hat.

Sofortmaßnahmen für die öffentlichen Bibliotheken

  • Sanierung aller öffentlichen Bibliotheken und gegebenenfalls Ausbau: bessere Aufenthaltsqualität, behindertengerecht, gemeinschaftlich nutzbare Räumlichkeiten, offene Medienpräsentation
  • Öffnungszeiten der öffentlichen Bibliotheken als „Open Libraries“: 8-22 Uhr
  • Bessere Systeme der Mediensuche
  • Erhöhung der Erwerbungsetats aller Bezirke auf 2 Euro je Einwohner
  • Bestandsauswahl durch die Bibliotheken selbst
  • Abschaffung der Transportgebühren zwischen den Bibliotheken
  • Stärkung der Zentral- und Landesbibliothek als übergeordnetes Bestandszentrum des VÖBB; Vergrößerung des Freihandbestands dort
  • Personalaufstockung auf den anerkannten Sollwert von 1 Stelle je 3000 Einwohner
  • Ausstattung aller Schulen mit Schulbibliotheken: dringend in allen Grundschulen; dann für alle ISS, OSZ und Gymnasien
  • Einrichtung von Bibliotheks-Bürgerräten in allen Bezirken und der ZLB nach dem Modell des Berliner Wassertischs
  • Abschaffung der Kosten-Leistungs-Rechnung (KLR); stattdessen je nach Einwohnerzahl Pauschalzuwendungen an die Bezirke

Bürgerinitiative Berliner Stadtbibliotheken

Autor:

Michael Roeder aus Wilmersdorf

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