Zählung der Obdachlosen
Nacht der Solidarität: Berlin will seine Hilfsangebote für wohnungslose Menschen verbessern

In der Nacht vom 29. zum 30. Januar suchen Freiwillige überall in der Stadt wie hier nahe dem Hermannplatz Obdachlose auf und wollen sie kurz befragen.
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Berlin bereitet sich auf eine deutschlandweit bislang einmalige Aktion vor. In einer „Nacht der Solidarität“ werden 3727 Freiwillige, angeleitet von Profis, vom 29. auf den 30. Januar zwischen 22 und 1 Uhr überall in der Stadt Obdachlose suchen und kurz befragen.

Selbstverständlich geht es bei diesem Projekt von Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Linke) um Solidarität und Nächstenliebe gegenüber den Betroffenen, deren Leben auf der Straße jetzt im Winter besonders hart ist.

Es gibt aber auch einen ganz handfesten Grund für die „Nacht der Solidarität“. Die Obdachlosen sollen gezählt werden. Die Zählung soll Erkenntnisse darüber bringen, wie viele obdachlose Menschen in Berlin tatsächlich leben. Bisher weiß das niemand. Die vermutete Zahl schwankt zwischen 6 000 und 10 000 Personen. Die etwa 600 Zählteams wollen herausfinden, wie die Obdachlosen in ihre schlimme Lage geraten sind, welche Angebote ihnen helfen könnten und welche sie überhaupt wünschen.

Andere Metropolen wie Brüssel, New York, Athen, Washington und Paris haben solche Zählungen bereits durchgeführt. Und ihre Schlüsse daraus gezogen. In der französischen Hauptstadt wurde nach der „Nuit de la Solidarité“ 2017 die Zahl der Notübernachtungsplätze für Frauen erhöht. Es hatte sich herausgestellt, dass der Frauenanteil unter den Obdachlosen nicht zwei, sondern zwölf Prozent beträgt.

Auch in Berlin gehe es darum, das Hilfesystem passgenauer zu gestalten, sagt Susanne Gerull, Professorin für Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit an der Alice Salomon Hochschule Berlin (ASH) in Hellersdorf. Susanne Gerull war in Paris persönlich mit dabei. Im Rahmen der sogenannten Strategiekonferenzen der Berliner Wohnungslosenhilfe und basierend auf ihren internationalen Erfahrungen hat die Professorin für Berlin die „Nacht der Solidarität“ entwickelt.

Jetzt hofft Susanne Gerull auf zuverlässige Daten über Obdachlose in der Hauptstadt. „Und zwar auch über diejenigen, die bisher keinen Kontakt zum Hilfesystem haben beziehungsweise haben wollen.“ Gerull und der Senat interessieren sich insbesondere für die Herkunftsländer, die Altersstufen und den Anteil von Männern und Frauen an den Obdachlosen.

„Insgesamt ist sich die Praxis sowie die Wissenschaft sicher, dass mehr Männer als Frauen sichtbar wohnungslos sind. Die meisten Daten weisen eine Verteilung von rund 70 Prozent wohnungslose Männer zu 30 Prozent wohnungslose Frauen auf. Da Frauen häufig Zweck- oder Zwangspartnerschaften eingehen, um sich nicht wohnungslos melden zu müssen, wird jedoch mit einer hohen Dunkelziffer gerechnet“, erklärt Gerull.

Erfasst werden könnten allerdings nur Menschen im öffentlichen Raum und aus datenschutzrechtlichen Gründen ausschließlich Personen aus Deutschland, EU- und Drittstaaten, schränkt die Professorin ein. „Also beispielsweise nicht diejenigen, die heimlich auf Dachböden oder Sofas von Bekannten vorübergehend schlafen.“ Zusätzlich würden die Menschen registriert, die in der Nacht der Zählung in Notübernachtungen einschließlich der Kältehilfe schlafen.

Egal, welches Ergebnis die „Nacht der Solidarität“ in Berlin haben wird, Susanne Gerull empfiehlt dem Senat schon heute, bezahlbaren Wohnraum zu schaffen und vorhandenen Wohnraum auch für finanziell und sozial benachteiligte Menschen zugänglich zu machen. „Wohnen ist ein Menschenrecht“, sagt die Armutsexpertin. Vielversprechende Ansätze gebe es etwa beim Berliner Modellprojekt „Housing First“. Hier werden Wohnungslose direkt von der Straße in eigene Wohnungen vermittelt und auf Wunsch und ohne Vorbedingungen von Sozialarbeitern unterstützt.

Wenn die Zählung vorbei ist, was kann jeder Einzelne konkret für einen Obdachlosen tun, fragen wir die ASH-Professorin. „Jeder Mensch braucht Respekt, insofern: nicht angestrengt weggucken; fragen, ob jemand Hilfe braucht, auf Wunsch etwas zu essen oder trinken ausgeben oder im Winter den Kältebus anrufen, der den Menschen zu einer Notübernachtung fährt; www.berlin.de/nacht-der-solidaritaet.

In der Nacht vom 29. zum 30. Januar suchen Freiwillige überall in der Stadt wie hier nahe dem Hermannplatz Obdachlose auf und wollen sie kurz befragen.
Armutsforscherin Susanne Gerull von der Alice Salomon Hochschule in Hellersdorf war schon bei der "Nacht der Solidarität" in Paris dabei. Die Professorin brachte die Aktion jetzt nach Berlin.
Autor:

Karen Noetzel aus Schöneberg

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