"Turnerkarriere" dank Oma: Das Spandauer Volksblatt und meine Freizeitgestaltung
Oma war ein Spandauer Urgestein. Geboren 1908 in der Seegefelder Straße, verbrachte sie ihr gesamtes Leben in „Spandau bei Berlin“. In ihrer Geburtsurkunde ist als Geburtsort noch die Stadt Spandau eingetragen, die erst während ihrer Kindheit im Jahr 1920 nach Groß-Berlin eingemeindet wurde. Plante Oma einen Ku’damm-Bummel, dann meldete sie sich bei der Familie mit den Worten „Ich fahre nach Berlin“ ab.
Wenn ich Erstklässlerin Ende der 70er Jahre von der Schule nach Hause kam, führte mein erster Weg oft in Omas Stübchen, um ihr kurz „Hallo“ zu sagen. Darauf legte sie großen Wert. Versäumte ich meinen Besuch, konnte sie äußerst beleidigt sein. Im Omastübchen stand – zum Leidwesen meiner Mutter, die meist schon das Mittagessen auf dem Herd bereit hielt – immer eine Dose mit Süßigkeiten auf dem Tisch und im Zeitungsständer steckte das damals noch täglich erscheinende Spandauer Volksblatt. An trüben Winternachmittagen saß ich dann mit Oma auf dem Sofa, knabberte Kekse und lauschte gebannt ihren Kindheitserinnerungen aus einer Zeit, in der Pferdefuhrwerke übliche Transportfahrzeuge waren und es in Spandauer Hinterhöfen noch Hufschmiede und Stellmacher gab. Zwischendurch griff sie dann wohl auch mal zu ihrem Volksblatt und ich durfte anhand der Schlagzeilen stolz meine Lesekünste unter Beweis stellen.
Talentloser Stubenhocker
Eines Tages tippte Oma mit den Worten „Das Kind wird noch zum Stubenhocker, schickt es doch mal hier hin!“ energisch auf eine kleine Anzeige im Spandauer Volksblatt. Was Oma da entdeckt hatte, war der Hinweis des Spandauer Turn- und Sportvereins 1860 aufs Kinderturnen. Da meine Eltern Omas Rat folgten, musste ich fortan einmal wöchentlich mit vielen anderen sehr gelenkigen, wendigen Kindern durch die Sporthalle flitzen und Bekanntschaft mit den verschiedenen Turngeräten machen. Leider scheiterte meine sportliche Karriere wegen völliger Talentlosigkeit meinerseits nach zwei Jahren, als ich der spielerisch gestalteten Kinderturngruppe entwachsen war und in eine höhere Altersklasse hätte wechseln müssen, in der es ernsthaft um sportliche Leistungen gegangen wäre.
Viele Jahre später, die Omastube war nach dem Tod ihrer Bewohnerin inzwischen in ein Gästezimmer umgewandelt worden, das ich in stressigen Zeiten manchmal als Rückzugsort zum gemütlichen Sofagammeln nutze, fiel mein Blick auf den Zeitungsständer, in dem damals wie heute das aktuelle Spandauer Volksblatt steckte. Beim Durchblättern stieß ich auf die Ankündigung eines offenen Singens der Chorvereinigung Spandau im Bürgersaal des Spandauer Rathauses. Chorsingen – Das war es, was ich mir in dieser sowohl beruflich als auch privat gerade recht anstrengenden Phase meines Lebens als Ausgleich gut vorstellen konnte. Diesmal traf ich die Entscheidung für meine Freizeitgestaltung selbst und habe sie bis heute nicht bereut. Nach dem Schnuppersingen im Rathaus kam ich schnell in diesem großen, übrigens ständig nach Verstärkung in allen Stimmlagen suchenden, Konzertchor an und mache mich seitdem jeden Dienstagabend, den Alltagsstress hinter mir lassend, freudig auf den Weg in die Münsingerstraße 2, um in der Aula des Lily-Braun-Gymnasiums ab 19 Uhr Gleichgesinnte zu treffen und in die Welt der Musik einzutauchen.
Vielen Dank und herzlichen Glückwunsch dem Spandauer Volksblatt, das man längst – genau wie Oma, den TSV und die Chorvereinigung – als altes Spandauer Urgestein bezeichnen kann.Petra Henschel
Autor:Alexander Schultze aus Spandau |
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