Anzeigen wegen stiller Gedenkaktion
Polizei geht gegen Bürger vor, die zum Tag der Befreiung an Naziopfer erinnern
Mit einer stillen Gedenkaktion zum 75. Jahrestag des Kriegsendes auf dem Rathausvorplatz an der Müllerstraße haben sich engagierte Bürger Anzeigen eingehandelt.
Sie standen ordnungsgemäß mit Mundschutz und in coronakonformen Sicherheitsabstand. Insgesamt 15 Minuten lang hielten am 9. Mai Gewerkschafter vom DGB, Anwohner und Mitglieder der Stadtteilvertretung „mensch.müller“ Anti-Hitler-Zitate von Elise und Otto Hampel hoch. Das Weddinger Ehepaar hatte während des Zweiten Weltkriegs mit handgeschriebenen Postkarten gegen Hitler und seinen Krieg gekämpft. Die Nazigegner aus der Amsterdamer Straße wurden verraten und am 8. April 1943 in Plötzensee durch das Fallbeil hingerichtet. Hans Fallada widmete dem Weddinger Ehepaar seinen 1947 veröffentlichten Roman „Jeder stirbt für sich allein“.
Zum Tag der Befreiung vom Hitlerfaschismus gedachten 16 Leute den Weddinger Nazigegnern an der Ende April zerstörten Gedenkstele, die das Bezirksamt 2018 aufstellen ließ. Sie legten Blumen an den auch zwei Wochen nach dem Anschlag noch immer herumliegenden Trümmern der Hampel-Stele nieder und machten Fotos mit den Plakaten, auf denen die Original-Zitate der Hampels gedruckt waren. „Die Polizei fand das so gut, dass sie sich gleich dazu gesellte und unsere auf Abstand und Mundschutz bedachte Gedenkaktion wegen aktueller Coronamaßnahmen ohne Abstand und Mundschutz zur Coronaparty verwandelte“, heißt es in einer Erklärung der Gruppe.
Polizisten haben die friedlichen Teilnehmer der Gedenkaktion kontrolliert und von allen die Personalien aufgenommen. Die Sache hat länger gedauert als die Fotoaktion selbst, wie die Polizei auf Anfrage bestätigt.
„Absurd und völlig maßlos“ nennt Fabian Schmidt den Polizeieinsatz. Der Weddinger vom DGB Bezirk Berlin-Brandenburg hatte das stille Gedenken organisiert und sich den Beamten als Verantwortlicher zu erkennen gegeben. Gegen ihn wird nun wegen Verstoß gegen das Versammlungsgesetz und wegen Hausfriedensbruch ermittelt, wie Kriminaloberkommissarin Sara Dieng von der Polizei-Pressestelle sagt. Für Schmidt ist das völlig unverständlich. Er wollte drei Tage zuvor die kurze Gedenkaktion bei der Versammlungsbehörde anmelden und hat online alle Daten angegeben. Am nächsten Tag habe er einen Anruf bekommen, bei dem ihm ein Beamter erklärt habe, dass diese kleine Miniaktion keine Demo sei und keiner Anmeldung bedürfe, so Schmidt. Das Anmeldeschreiben und die Nummer des Beamten von der Versammlungsbehörde, die noch in seiner Anrufliste stand, habe die Einsatzkräfte nicht interessiert, ärgert sich der Gewerkschafter. „Wir haben versucht, alle Regeln einzuhalten“, so Fabian Schmidt. Trotzdem hagelt es Anzeigen. Für ein paar Minuten Gedenken an die Nazipofer würden die Leute behandelt wie Teilnehmer obskurer „Hygienedemos“, bei denen Parolen gegrölt werden und gepöbelt werde.
Nach der Zerstörung der Hampel-Stele in der Nacht auf den 29. April hatte der Polizeiliche Staatsschutz die Ermittlungen zu „Sachbeschädigung mit politischem Hintergrund“ aufgenommen. Die über zwei Meter hohe Stele aus Glas, auf der die Künstlerin Ingeborg Lockemann den Original-Schriftzug einer Hampel-Postkarte gedruckt hat („Wache auf! Wir müssen uns von der Hitlerei befreien!“) lag bis zum 13. Mai zerdeppert auf dem Rathausvorplatz. Lediglich ein paar Absperrbaken wurden um das Kunstwerk gestellt. Weder die Berliner Immobilienmanagement GmbH (BIM), der der Patz gehört, noch das Bezirksamt hatten die Tafel nach dem Anschlag gesichert.
„Die Gedenktafel wird am 13. Mai von der Künstlerin hinsichtlich des Schadens begutachtet und danach abtransportiert“, teilt die Pressestelle des Bezirksamtes auf Nachfrage mit. „Es stellten sich kurzfristig doch größere Beschädigungen heraus als es ursprünglich den Anschein hatte, so dass diese Verfahrensweise zwingend notwendig wurde“, heißt es weiter. Ingeborg Lockemann war jedoch nicht vor Ort, wie sie sagt. Sie kennt den Schaden nur von Fotos. Dass die kaputte Tafel zwei Wochen lang rumlag, ärgert sie auch. Die zuständige Stadträtin Sabine Weißler (Grüne) hat eine „kurzfristige Ersatzbeschaffung“ der Info-Stele für Elise und Otto Hampel angekündigt.
Nachdem das zerstörte Denkmal, auf dem Anwohner seit Tagen Kerzen und Blumen gestellt hatten, jetzt weggeräumt wurde, erinnert nichts mehr an die Hampels. „Die Stelle sieht aus, als ob es das Denkmal nie gegeben hätte. Keine Erklärung, keine Information in schriftlicher Form, nichts“, ärgert sich Anwohnerin Annette Stubbe. Wie Ingeborg Lockemann sagt, muss das Denkmal komplett erneuert werden.
Autor:Dirk Jericho aus Mitte |
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