Bewegender Brief: Dieter Puhl über den Kältetod eines Obdachlosen

Kenner der Szene: Dieter Puhl bewertet den Fall des Obdachlosen Thomas W. | Foto: Thomas Schubert
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Charlottenburg. Erst war es nur ein Verdacht. Nun folgt die Gewissheit: Am 16. Januar starb der Obdachlose Thomas W. an den Folgen der Kälte. Dieter Puhl, Leiter der Bahnhofsmission am Zoologischen Garten, fand dazu die folgenden Worte.

Thomas W. ist in Berlin erfroren. Aber andere obdachlose Menschen leben mitten unter uns, weil sie auf unsere Hilfen hoffen. Am 16. Januar wurde Thomas W. morgens um 6 Uhr tot am Ku’damm aufgefunden. Er ist an „Unterkühlung“ gestorben. Thomas lebte mitten unter uns. Einige hatten ihm Hilfen angeboten. Er wollte, konnte diese nicht annehmen. Ich kannte ihn nicht. Vermutlich. Bei 5000 bis 6000 Menschen, die in Berlin obdachlos auf der Straße leben, bin ich mir da nicht so sicher, viele kenne ich ja wirklich gut, etliche aber kaum oder gar nicht. Immerhin suchen uns ja täglich 600 Gäste in der Bahnhofsmission Berlin Zoologischer Garten auf.

"Unterkühlung" ist ein weichgespültes Wort für den Umstand, da ist ein Mensch erfroren. In Moskau erfrieren in einem strengen Winter um die 150 Menschen auf der Straße, in Warschau immerhin noch 50, in Berlin kaum jemand, auch ein Zeichen dafür, das Hilfenetz ist recht gut.

Nun ist aber befremdlicherweise leider genau das passiert, was alle zu verhindern suchen. Thomas W. ist nicht im Grunewald oder versteckt im Tiergarten aufgefunden worden; öffentlicher als am Ku’damm hätte sein Tod, sein Sterben nicht sein können.

Wie ging es ihm in den letzten Tagen seines Lebens, wie ging es ihm überhaupt?

Bleiben von ihm Spuren?

Hatte Thomas W. Kinder, Familie, eine frühere Partnerin, Arbeitskollegen, Schulfreunde? Wer regelt die Beerdigung, wer steht am Grab, wer trauert persönlich? Bei wem hinterlässt er eine Lücke, wem war er wichtig? Bleiben Spuren von ihm? Er ist der "erste Kältetote" in diesem Winter, das ist zunächst nüchtern eine "statistische Angabe" und eine traurige Berühmtheit.

Zahlen verblassen schnell, weniger aber die Erinnerung. Wenn sich denn jemand erinnert! Obdachlose Menschen, Untersuchungen belegen das schon lange, sind oft psychisch beeinträchtigt, die Obdachlosigkeit ist meist nur Folge dieser Erkrankungen.

Gemeinsam ist vielen: "Ich kann nicht mehr. Die Spielregel einhalten, den Normen entsprechen. Den Platz in eurer Mitte halten."

Und so katapultiert Obdachlosigkeit Menschen an den Rand und trotzdem, das ist paradox, bleiben sie mitten unter uns, mehr als wir es oft sind. Selbst im Sterben.

Psychische Erkrankungen kann man heilen, Spielregeln kann man (wieder) lernen, Obdachlosigkeit muss nicht sein.

Der eher milde Winter verhindert es, Gott sei Dank, es würden sonst mehr Menschen in Berlin und Deutschland erfrieren.

Autor:

Thomas Schubert aus Charlottenburg

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