So funktioniert Europas erstes Mehrgenerationenhaus für Schwule
Charlottenburg. Im „Lebensort Vielfalt“ müssen 33 Homosexuelle über ihre Neigungen kein Wort mehr verlieren. Worum es hier geht, ist der würdevolle Umgang mit dem Alter. Ein Ortsbesuch drei Jahre nach der Eröffnung.
Keiner kommt dem Himmel so nahe wie Bernd. Sein lederbespanntes Bett, es thront direkt unter dem Giebel. Hier, in einer Maisonettewohnung unterm Dach des „Lebensorts Vielfalt“ macht der Regenbogen sozusagen die Biege. Und wenn Bernd zwischen prallvollen Bücherregalen und Gemälden einschläft, fände er in seinen Träumen wohl kaum eine Wohnstätte, die seinen Wünschen näher kommt als diese. Aber wen soll das wundern? Denn hier teilten die Bewohner dem Hausherren vorher mit, wie sie leben wollen. Und er baute.
Der Hausherr– das ist die Schwulenberatung Berlin. Und ihr Vorzeigestück, ein sanierter Altbau in der Niebuhrstraße, sucht drei Jahre nach der Eröffnung in ganz Europa noch immer seinesgleichen. 33 Mieter konnten Marcel de Groot und sein Team hier einquartieren, 28 Herren, 5 Damen. Die aktuelle Altersspanne: 31 bis 86 Jahre. Die Lebenssituation: höchst verschieden. Und weil sich hier vom kerngesunden Jungspund bis zum pflegebedürftigen Senior alle Mieter in eigenen Räumen und harmonisch gestalteten Gemeinschaftsbereichen wiederfinden, spannt sich die Liste der Interessenten auf eine stolze Länge. 300 Anfragen – und kein freier Platz in Sicht.
„Ich denke, die Mischung macht's“, kommentiert de Groot diesen Erfolg. Wohl bedachte Durchmischung gibt es nicht nur bei Alter und Gesundheitsgrad, sondern natürlich auch in Fragen des Geldes. „Wir haben vier Hartz-4-Wohnungen“, stellt der Geschäftsführer heraus. Die Durchschnittsmiete der 24 Unterkünfte und der Pflege-WG liege bei 8,60 Euro nettokalt. Wer schieren Luxus liebt, haust woanders.
Gerade weil die Bewohner es schätzen, alleine zu wohnen, kommt den Begegnungszonen eine umso gewichtigere Rolle zu. So trifft man im einzigen Fahrstuhl des Hauses unweigerlich zusammen. Die Korridore durchziehen Fensterzeilen, welche Blicke in Küchenräume der anderen erlauben – wenn derjenige den Durchguck nicht verschließt. Man soll sich begegnen und zurückziehen, ganz nach Belieben. Alles kann, nichts muss. Architekt Ulrich Schob brachte mit ausgeklügelten Details Licht und Transparenz in das vorhandene Gemäuer, verschob Mauern, schuf Balkone. Die Möglichkeit zum pflegegerechten Miteinander hat er quasi eingebaut, bei beträchtlichem Aufwand. „Wir mussten Verstärkungsträger in den Decken einbauen, um die Statik zu erhalten“, erzählt Schob. Die Kauf- und Umbaukosten: 6 Millionen Euro.
In diesen vier Wänden sind gleichgeschlechtliche, queere Neigungen so selbstverständlich, dass man kaum darüber zu reden braucht. Und draußen? „Wenn man jung und gesund ist, kommt man in Berlin gut klar“, urteilt de Groot. Auf Schwierigkeiten stoßen eher Hilfsbedürftige. Die Gebrechlichen und Kranken.“ Deshalb der Bedarf für Räume wie den „Lebensort.“
Besonders heikel stellt sich die Situation jedoch für Asylbewerber dar, die nicht zuletzt aufgrund ihrer sexuellen Orientierung ihre alte Heimat hinter sich ließen. Und hier? Da fehlt vielen noch der Mut zum Outing – obwohl das ein Anerkennungsgrund wäre. Solche Flüchtlinge müssten sich in Deutschland genau den Behörden anvertrauen, von denen sie in ihren Herkunftsländern sofort verhaftet würden. Eine beträchtliche psychologische Hürde. Eher ertragen sie das Martyrium in den Heimen, dulden Herabwürdigung durch Mitbewohner. Das Leiden, das ihre Flucht begründete – es geht in Deutschland weiter.
Hier muss eine rasche Lösung her, meint de Groot. „Wir brauchen ein Heim für homosexuelle Flüchtlinge.“ Für den Anfang genüge eine weitläufige Wohnung.
Im „Lebensort Vielfalt“, sind die Klippen des Outings freilich längst übersprungen. Mann und Frau sind schon etliche Schritte weiter. Hier sorgen sich Bewohner um das körperliche Wohlergehen, das würdevolle Altern. Die Homosexualität, sie ist ein Vorzeichen in einer großen zwischenmenschlichen Gleichung, ein kleiner Regenbogen an einem weiten Himmel. „Sie wird ganz natürlich dazugehören“, sagt de Groot – „bis ans Lebensende.“
tsc
Autor:Thomas Schubert aus Charlottenburg |
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