Hände, die einen wieder hochziehen
Beratungszentrum „Dick & Dünn“ hilft bei Essstörungen
Am Ende wog Anna 41 Kilogramm. Sie war nur noch Haut und Knochen. Mit 13 hatte es begonnen. „Ich war schlecht in der Schule. Meine Eltern besorgten mir einen Platz im Internat. Ich bekam Heimweh. Ich wurde gemobbt. Ich sehnte mich nach meinen Geschwistern. Ich fing an zu hungern.“
Heute ist Anna Ende zwanzig. Sie sagt, sie habe ihre Magersucht überwunden. „Ich hätte mich damals sehr gefreut, mit jemandem außerhalb meiner Familie reden zu können, auch über unappetitliche Dinge.“
Zum Beispiel mit den Expertinnen des Beratungszentrums für Essstörungen „Dick & Dünn“ in Schöneberg. Seit 1986 ist das Beratungszentrum in der Innsbrucker Straße erste Anlaufstelle, wenn es um Essstörungen geht. Unter der Leitung der Diplomsozialpädagogin und Entspannungsdozentin Carmen Schmidt werden jährlich rund 1000 Betroffene und Angehörige beraten.
Nach dreijähriger Anlaufzeit wird „Dick & Dünn“ ins Vereinsregister eingetragen und als gemeinnützig anerkannt. Der Verein bezieht erste eigene Räume in der Innsbrucker Straße 42. Zweimal wird noch umgezogen, aber immer in der Innsbrucker Straße. Seit 2005 ist „Dick & Dünn“ in Nummer 37 beheimatet.
Das Beratungszentrum hat mit dem Grips-Theater für das Stück „Kloß im Hals“ zusammengearbeitet. Es wird 1989 erstmals am Hansaplatz aufgeführt. Zwei Jahre später wird mit dem Norddeutschen Rundfunk der Film „Nora“ gedreht, das Porträt einer betroffenen Frau und der Gruppenarbeit im Verein.
1992 folgt die offizielle Anerkennung des Beratungszentrums durch die Berliner Senatsverwaltung. Seither gibt es Zuschüsse vom Land und von der AOK Nordost. Trotzdem muss „Dick & Dünn“ jedes Jahr 23 Prozent der Gesamtkosten selbst stemmen. Der Verein tut das über Spenden, Zuzahlungen zu Beratungen, Mitgliedsbeiträge sowie Honorare für Fortbildungskurse.
2004 konnte „Dick & Dünn“ im Rathaus Schöneberg sein 20-jähriges Bestehen feiern. Hundert geladene Gäste kamen. Im Februar 2006 erfolgte ein nächster bedeutsamer Schritt: die Eröffnung der Wohngemeinschaft „Bitter & Süß“. Das Projekt wurde gemeinsam mit dem Verein „Nachbarschaft hilft Wohngemeinschaft“ der Diakonie verwirklicht. 2007 erhielt das Beratungszentrum das Qualitätssiegel des Paritätischen Wohlfahrtverbands. Von 2008 bis 2013 haben die Expertinnen im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums über 300 Fachkollegen fortgebildet. Das Team aus Psychologinnen, Sozialpädagoginnen, Sozialarbeiterinnen mit therapeutischen Zusatzausbildungen ist mit seiner Präventionsarbeit, mit Beratungsangeboten, Gruppengesprächen und Fortbildungen für Jugendliche, Frauen und Männer, aber auch für deren Angehörige und Freunde da. Es geht um die Früherkennung von Essstörungen und deren Verhinderung, um das Ermutigen von Betroffenen, sich Hilfe zu holen. Es geht darum, Betroffene vor, während und nach einer Behandlung zu begleiten.
Magersucht oder Anorexie, Bulimie oder Essbrechsucht und Essattacken sind in den vergangenen drei Jahrzehnten immer stärker in den Vordergrund getreten. Im Gesundheitswesen verursachen sie enorme Kosten. Jede Essstörung ist eine schwerwigende Erkrankung, die Körper, Geist und Seele angreift. Massive gesundheitliche und psychische Schädigungen können die Folge sein. Ein bis fünf Betroffene begehen Selbstmord oder sterben an den Folgen. „Das Hungern wird lebensgefährlich“, mahnt die ehemalige Anorexiepatientin Anna. „Man merkt den Zeitpunkt nicht, an dem es mit einem Schlag abwärts geht.“
„Eine Essstörung hat für jede Betroffene eine andere Funktion“, wissen die Fachleute von „Dick & Dünn“. So kann für die eine das Thema Kontrolle und Sicherheit dahinter stecken, für die andere eine Abwehr von unangenehmen Gefühlen oder Lebenssituationen. Sie sind ein im Grunde hilfloser Versuch, sie zu verdrängen, hinunterzuschlucken oder auszukotzen.
Das mit den unangenehmen Gefühlen und ihrer Abwehr kann Anna nur bestätigen. „Als ich abmagerte, erfuhr ich Respekt von den anderen. Ich wurde in Ruhe gelassen, teilweise sogar bewundert.“ Doch nach diesem euphorischen Zustand sei der Fall ins Bodenlose gekommen, erinnert sie sich. Wer bereit sei, sich helfen zu lassen, der suche Hände, die ihn wieder hochziehen.
„Dick & Dünn“ ist aufgrund der Corona-Pandemie nur unregelmäßig unter ¿854 49 94 (Anrufbeantworter), und E-Mail unter info@dick-und-duenn-berlin.de zu erreichen. Infos unter www.dick-und-duenn-berlin.de/.
Autor:Karen Noetzel aus Schöneberg |
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