Weitere Beseitigung des alten Wilmersdorf
Wilhelmsaue 17 gerettet, Wilhelmsaue 29 abgerissen – Ein Nachruf, gleichzeitig ein Aufruf

Abb. 1  -  Adventsdekoration Dezember 2013 (mit freundlicher Genehmigung von Th. Wenzel)
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  • Abb. 1 - Adventsdekoration Dezember 2013 (mit freundlicher Genehmigung von Th. Wenzel)
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Mit 3. Nachtrag vom 18.5.2021.

Vermutlich wurde das zweigeschossige, traufständige, weiß-blau gestrichene Haus Wilhelmsaue 29* mit seiner fünfachsigen Fassade elf Monate im Jahr wenig beachtet. Doch in der Adventszeit – vom 1. Advent bis Heilige Drei Könige am 6. Januar – fiel es durch seine leuchtende Dekoration jedem Passanten auf. 2004 hatte Thomas Wenzel, Mieter des Hauses und Inhaber der Autowerkstatt, damit angefangen und sie Jahr für Jahr so ausgebaut, bis sie schließlich die ganze Fassade samt dem Oberstreifen des Gehwegs bedeckte (Abb. 1).
Mit der Dekoration war es 2017 vorbei, als der Autowerkstatt Wenzel vom damaligen Eigentümer gekündigt wurde. Und mit dem Haus selbst samt Nebengebäuden ist es seit August 2020 ebenfalls vorbei, nachdem die jetzige Grundstückeigentümerin, die Vermögensverwaltung der Gewerkschaft ver.di, alles hat abreißen lassen (Abb. 2). Ob damit ein Baudenkmal fiel, „dessen Erhaltung wegen der geschichtlichen, künstlerischen, wissenschaftlichen oder städtebaulichen Bedeutung im Interesse der Allgemeinheit“ gelegen hätte (§ 2 II Denkmalschutzgesetz Berlin), mag sich aus dem folgenden ergeben.

                    Nachruf

Die Bauakte zum Haus Wilhelmstraße 15, wie das Grundstück damals hieß, bevor die Straße 1888 zur Wilhelmsaue wurde, beginnt im Februar 1874. Damals hatte der Schmiedemeister Carl Voigt den „Neubau eines Wohnhauses massiv mit Ziegeldach und Aufbau eines Kuhstalls massiv mit Ziegeldach“ (Bl. 1 der Akte) genehmigt bekommen. Im Gegensatz zu der dem Antrag beiliegenden Zeichnung (Abb. 3) erhielt das Haus jedoch kein Souterrain, dafür eine zusätzliche Tür direkt zur Straße anstelle des Fensters ganz rechts (der Hauptzugang lag weiterhin auf der Rückseite).
Im Oktober 1905 beantragte Schmiedemeister Voigt, ihm die „Errichtung eines Beschlagschuppens und Einrichtung einer Schmiede“ (Bl. 25) im hinteren Bereich seines Grundstücks zu genehmigen. Zeitgleich, im November 1905, wurde Herrn Weiß eine Schankerlaubnis erteilt (Bl. 40). Das Restaurant – ab 1914 (Bl. 109) vermutlich zutreffender als Schanklokal bezeichnet – befand sich auf der Vorderseite des Gebäudes und erstreckte sich von der Eingangstür bis einschließlich dem Fenster in der Mittelachse (Abb. 4); es war also etwa 7 ¼ m mal 5 m groß. Vorher hatte dieser Raum als Laden gedient (Bl. 25).
1914 war Schmiedemeister Heinrich Hartstein Eigentümer des Grundstücks. Er modernisierte die bisher manuelle Schmiede durch einen „Federhammer mit elektrischem Antriebe“ (1), wozu er im September 1922 die behördliche Erlaubnis erhielt (Bl. 137). Im August 1927 bezeichnet Hartstein im Briefkopf eines Schreibens seinen Betrieb als Wagenbau (Bl. 216), und im September 1929 benutzte er Briefpapier, in dessen Kopf links sich die Zeichnung einer Maschine mit der Bezeichnung Kaltreifenpresse (2) befand. Sein Sohn, Schmiedemeister Herbert Hartstein, betrieb dort bis 1972 eine Fahrzeugschmiede; danach nutze er die Räume als Lager für seine Oldtimer.
2002 pachtete Wenzel das Grundstück von ihm und baute im Laufe von drei Jahren, neben seinem Broterwerb, die Räumlichkeiten in Nacht- und Wochenendarbeit so um – Begradigung und Fliesen des Bodens, Einbau von Hebebühne und Bremsprüfstand und vieles mehr –, daß er die Werkstatt (Abb. 5) 2005 eröffnen konnte.

Denkmalschutzwürdig?
Dieses Haus und seine Anbauten könnten geschichtliche sowie städtebauliche Bedeutung gehabt haben, so daß ihre Erhaltung im Interesse der Allgemeinheit gelegen hätte.
Die Gebäude entstanden in der Übergangszeit Wilmersdorfs vom Dorf zur Stadt. Das Wohnhaus war schon kein Bauernhaus mehr, wie der Fassadenentwurf (Abb. 3) zeigt, aber auch keine dörfliche Villa wie Wilhelmsaue 17. Die ursprüngliche Nutzung des Hintergebäudes (Kuhstall) wies noch auf das Dorf hin (siehe auch: Kuhhaltung und Milchverkauf im Hof von Wilhelmsaue 10 bis in die 1960er Jahre). Der spätere Umbau zunächst zur Schmiede mit Beschlagschuppen für Pferdefuhrwerke und dann - ausgestattet mit schwerem Schmiedegerät und Radproduktion - zur Fahrzeugschmiede spiegelte die Entwicklung im Transportwesen wieder (3). Ab 2005 war, neben ehemaliger Schmiede und überdachtem Hof, auch das Erdgeschoß des Wohnhauses als Büro und Verkaufsraum der Autowerkstatt ganz dem Auto gewidmet.
Für die Denkmalwürdigkeit des abgerissenen Gebäudekomplexes aus Gründen der städtebaulichen Bedeutung hätte weiterhin sprechen können, daß der alte Kern von Wilmersdorf fast über keine baulichen Spuren aus der Zeit vor 1900 mehr verfügt (Liste der noch bestehenden Bauten hier).

                    Aufruf

Dieser Aufruf richtet sich an Bezirksamt sowie Denkmalbeirat der Bezirksverordnetenversammlung.

An das Bezirksamt:
In erster Linie wäre es die Pflicht des Bezirksamtes, darauf zu achten, daß die Grundsätze des Denkmalschutzgesetzes im Alltag zum Tragen kommen. Allerdings wird von Kennern der Materie berichtet, daß sich das Bezirksamt bei Bauanträgen darauf beschränkt, am Schreibtisch nachzusehen, ob das betreffende Gebäude Denkmalschutz hat. Den hatte z.B. das Haus Wilhelmsaue 17 zunächst nicht, weswegen – trotz seiner so offensichtlichen Bedeutung für Straße und Viertel – dem Eigentümer ein Bauvorbescheid erteilt wurde, der die Gefahr des Abrisses dieser bäuerlichen Stadtvilla von etwa 1880 erheblich vergrößerte. Nur durch einen Aufschrei der Anwohner und das schleunige Handeln des Landesdenkmalamtes konnte dies noch verhindert werden.
[b]

Um diesen Umgang des Bezirksamtes mit historischer Bausubstanz zum Nachteil des städtebaulichen Erscheinungsbildes unseres Bezirkes zu beenden und um letzte Zeugnisse der Ortsgeschichte zu erhalten, wäre es erforderlich, daß sich das Bezirksamt vor der Bescheidung von Bauanträgen die jeweiligen Gebäude anschaut. Dies sollte möglichst in Rücksprache mit dem bezirklichen Denkmalbeirat geschehen. Überhaupt wäre eine enge Zusammenarbeit von Unterer Denkmalbehörde und Denkmalbeirat hilfreich bei der Sicherung des Stadtbildes.

An den bezirklichen Denkmalbeirat:
[/b]Eine wesentliche Aufgabe der Bezirksverordnetenversammlung ist laut Gesetz die Kontrolle des Bezirksamtes. Das betrifft auch den Denkmalschutz: „Der Denkmalschutz muß heute neu gedacht und angewendet werden. Immer mehr bedürfen Wohnbauten, Freianlagen, Alltags-Architekturen, stadträumliche Ensembles unserer schützenden Aufmerksamkeit.“ (4) Dieser Aufgabe hat sich der Denkmalbeirat verschrieben.

Um diese Kontroll- und Erhaltungsaufgabe wahrnehmen zu können, sollte der Denkmalbeirat ein Verzeichnis schützenswerter Bauten in den Ortskernen des Bezirks aufstellen.
Da dazu die Unterstützung der Anwohner hilfreich wäre – und da Denkmalschutz sowieso in deren Interesse ist –, sollte nunmehr auch der Denkmalbeirat ein öffentlich tagendes Gremium (5) werden, das aktiv die Öffentlichkeit sucht.


Nachtrag (24.8.2020): In einer schriftlichen Mitteilung der Vermögensverwaltung der ver.di GmbH vom 24.8.2020 an den Verf. heißt es, "eine Planung zur weiteren Nutzung des Grundstücks wird in der Perspektive entwickelt". Das Gebäude von 1874 ist also abgerissen worden, obwohl es keine konkreten Vorstellungen über die Verwendung des Grundstücks gibt.

2. Nachtrag (26.8.2020): Das Bezirksamt teilte dem Verf. am 26.8. schriftlich mit: "Die Abbruchanzeige wurde am 15.04.2019 eingereicht. Der Beginn der Abbrucharbeiten wurde am 19.11.2019 angezeigt. Bei der Gebäudeklasse und der Art der Nutzung des Gebäudes muss keine Abbruchgenehmigung erteilt werden. Es gibt keine Genehmigungen für einen Neubau." Diese Genehmigungen gibt es deshalb nicht, weil bisher kein Bauantrag gestellt wurde.

3. Nachtrag(18.5.2021): Ein Bauarbeiter ist dabei, an der Stelle, wo das Haus stand, eine Parkfläche herzurichten.

________________________________________
* [urlnt= https://www.openstreetmap.de/karte.html]Hier[/urlnt] im Suchfeld „Berlin Wilhelmsaue 29“ eingeben.
(1) Beim Federhammer wird der Hammer maschinell angehoben und die Wucht des Schlages durch Auf- und Entspannen einer Feder verstärkt.
(2) Da die (heiße) Vulkanisation noch nicht weit entwickelt war, stellte man Autoreifen auch her, indem zähflüssiges Gumm in Formen gepreßt wurde (Kaltreifenpresse). Autoreifen – Voll(gummi)- und Luftreifen – bestanden nur aus Gummi und waren nach 500 km verbraucht. (Information der Fa. Bridgestone)
(3) Siehe dazu die parallele Entwicklung in Wilhelmsaue 31 – ein denkbarer Kunde der Schmiede gleich nebenan.
(4) Aus dem[urlnt= https://www.berliner-woche.de/charlottenburg-wilmersdorf/c-bauen/gespraech-mit-einem-experten-zum-denkmalschutz_a263833] Interview mit einem Experten[/urlnt].
(5) Wie im Juni 2015 die Gedenktafelkommission; zur damaligen Diskussion siehe hier.

Autor:

Michael Roeder aus Wilmersdorf

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