Zur Sitzung der Gedenktafelkommission vom 11.6.2020
Wie war es eigentlich, Zwangsarbeiter des Bezirksamtes Wilmersdorf zu sein?
Jetzt ist das eingetreten, was sich im März dieses Jahres bereits abzeichnete (siehe Berliner Woche vom 12.3.2020: Kulturausschuß macht Weg frei für Gedenken an Zwangsarbeiter des Bezirksamtes Wilmersdorf): Die „Feinarbeit“ der Gedenktafelkommission für das offizielle Gedenken an die Zwangsarbeiter rückt in noch weitere Ferne – nach der Vertagung vom 12. März auf den 11. Juni jetzt um weitere zwei Monate auf voraussichtlich Ende August, wie telefonisch vom Büro der Bezirksverordnetenversammlung zu erfahren war.
Die Erinnerung kommt … noch lange nicht?
Dabei hatte es am 10. März im Kulturausschuß, nach fünf Jahren des Ringens, den großen Durchbruch gegeben, und einstimmig beschlossen die führenden Kulturpolitiker des Bezirks, mit voller Unterstützung der anwesenden Kulturstadträtin, in Wilmersdorf an zwei Orten der dortigen Zwangsarbeiter zu gedenken. Allerdings beschlossen dieselben Kulturpolitiker aus unbekannten Gründen zwei Tage später in der Gedenktafelkommission, die jetzt notwendige „Feinarbeit“ am Text der Tafeln drei Monate ruhen zu lassen. Aus den drei Monaten werden nun fünf, da die am 28. Mai liegengebliebenen Aufgaben der BVV am 11. Juni nachgeholt werden sollen. Natürlich geht dies der Kommissionssitzung vor. Allerdings ist nicht klar, warum in den vier Wochen zwischen 28. Mai und 25. Juni, Beginn der Sommerferien, kein neuer Termin gefunden wurde. So gilt es also, auf Ende August zu warten.
Wie war es eigentlich, Zwangsarbeiter zu sein?
Um dazu beizutragen, daß die offizielle Erinnerung an die Zwangsarbeiter nicht statt 75 Jahre nach Kriegsende vielleicht erst 76 Jahre danach oder noch später stattfindet, soll hier am Schicksal von Jan H. kurz gezeigt werden, was es bedeutete, Zwangsarbeiter beim Bezirksamt Wilmersdorf zu sein. Seinem Schicksal und dem vieler anderer ist die Historikerin Dr. Katarzyna Woniak in ihrem Buch „Zwangswelten. Emotions- und Alltagsgeschichte polnischer ‚Zivilarbeiter' in Berlin 1939-1945“ in mehrjähriger Forschungsarbeit nachgegangen. Herzlichen Dank an sie, daß dieser Ausschnitt hier wiedergegeben werden darf:
Zwangswelt eines polnischen „Zivilarbeiters“ des Bezirksamts Wilmersdorf im Jahr 1943
Gingen die Zwangsarbeiter auf Heimaturlaub, so nahmen sie häufig gesparte Geldbeiträge mit sich. Der 29-jährige Jan H. aus Zagacie im Generalgouvernement wollte mit dem verdienten Geld seine Familie unterstützen. Er war schon im Herbst 1939 zum „Arbeitseinsatz“ gekommen und wohnte im Lager Wilhelmsaue 39-40*, das von der städtischen Bezirksverwaltung Wilmersdorf betrieben wurde. Immer wieder stellte der Pole einen Antrag auf Urlaub, um seiner Ehefrau etwas Geld mitzubringen.
"Ich habe hier 4 Jahre gearbeitet und keinen Urlaub bekommen. Und ich habe über diese Zeit 800 RM gespart. Dieses Geld wollte ich meiner Ehefrau mitbringen, damit sie Lebensmittel für die Familie kaufen könnte. Man durfte ja so einen großen Betrag nicht überweisen, nur 10 RM monatlich und 10 RM monatlich war für die Familie zu wenig. Ich wollte also das monatlich gesparte Geld meiner Frau bringen und danach wieder nach Deutschland zur Arbeit zurückkehren",
erklärte Jan in seinem auf Polnisch verfassten Gesuch an den Staatsanwalt vom 22. September 1943. Da er mit seinen Urlaubsanträgen gescheitert und von starkem Heimweh getrieben war, entschloss er sich im Juli 1943 für wenige Tage unerlaubterweise in die Heimat zu fahren. Allerdings wurde er noch in Berlin gefasst. Der Fahndungsbeamte nahm ihm dabei das gesparte Geld weg und übergab Jan der Kriminalpolizei. Da ein rechtswidriger Gelderwerb zu vermuten war, wurde er zwecks einer gerichtlichen Aburteilung in die Untersuchungshaft im Stadtteil Alt-Moabit überführt. Am 5. August 1943 klagte ihn der Generalstaatsanwalt an, „Lebensmittelkarten und Kleiderkarten von sich gegen Entgelt verkauft und eigenes Brot zu Überpreisen an die Lagerkameraden abgegeben“ zu haben.
Das Warten auf seinen Prozess in der Untersuchungshaft und die Ungewissheit über das Strafmaß wurden ihm so sehr zur Qual, dass er Ende September ein Gesuch in polnischer Sprache an den „Untersuchungsrichter“ verfasste. „Ich, Jan H., bitte den Herrn Richter um Beschleunigung meines Termins. […] Ich weiß nicht, was mit mir sein wird. Ich bitte Sie dringend um eine Antwort!“, lautete der verzweifelte Hilferuf. Eine Antwort erhielt der Pole nicht. Stattdessen interessierte sich die Gestapo für ihn und forderte seine Überstellung im das berüchtigte Polizeigefängnis am Alexanderplatz. Der Generalstaatsanwalt kam der Forderung unverzüglich nach und übergab Jan H. der Polizei „zur weiteren Veranlassung“. Der Wille zur finanziellen Unterstützung der in der Heimat verbliebenen Familie hatte für den jungen Polen harte Konsequenzen. Zuerst musste er monatelang in der Untersuchungshaft einsitzen. Dann übergab ihn der Staatsanwalt der Gestapo, die Jan nach einer kurzen Haft im Polizeigefängnis höchstwahrscheinlich in ein Konzentrationslager brachte. Es ist nicht rekonstruierbar, ob er den Krieg überhaupt überlebte.* Auch der Verwaltungsbezirk Charlottenburg unterhielt bis zum Kriegsende ein Wohnlager für die ausländischen Arbeitskräfte, die im städtischen Dienst Arbeiten auszuführen hatten wie etwa Malerarbeiten. Der Pole Stanisław K., geboren 1909, war bei dem Bezirk noch im Januar 1945 als Maler beschäftigt. Das eigenbetriebene Wohnlager befand sich in der Oranienstraße 13/15 [jetzt Nithackstraße 8-10, Eosander-Schinkel-Grundschule]. Siehe: Strafanzeige gegen Stanisław K., 23.1.1945, LAB, A Rep. 358-02/149950, Bl. 2.
aus: Katarzyna Woniak, Zwangswelten. Emotions- und Alltagsgeschichte polnischer ‚Zivilarbeiter' in Berlin 1939-1945, Ferdinand Schoeningh, erscheint am 15. Okt. 2020, 464 Seiten, ISBN-13: 9783506703101, S. 198-199
P.S. Die Fußnote mag ein erneuter Anstoß sein, nun auch über das Zwangsarbeiterlager des Bezirksamtes Charlottenburg zu forschen.
Autor:Michael Roeder aus Wilmersdorf |
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