Vom 1-Euro-Job zur Erfolgsstory
Kiezeltern erleichtern Migranten den Alltag
Im Bezirk kümmern sich Kiezmütter und -väter um Migranten, die sich im Alltag noch nicht zurechtfinden. Was als arbeitsmarktpolitische Maßnahme des Jobcenters begann, hat sich zu einer echten Erfolgsgeschichte gemausert.
Das Jobcenter Charlottenburg-Wilmersdorf hatte in Zusammenarbeit mit dem Diakonischen Werk und dem Evangelischen Jugendhilfe Verein, beide in Steglitz-Zehlendorf beheimatet, das Modell der Stadtteilmütter entwickelt: arbeitssuchende Frauen, die für 1,50 Euro pro Stunde dem zweiten Arbeitsmarkt zugeführt wurden. 2013 kam das Jobcenter dann auf die Idee, aus dem gut laufenden Modell einen sozialversicherungspflichtigen Job zu machen. Das Diakonische Werk stieg aus wirtschaftlichen Gründen als Träger aus. „Wir wurden dann gefragt, ob wir das auch allein machen würden“, berichtet Claudia Zier, Geschäftsführerin des Jugendhilfe Vereins. „Wir haben unter zwei Bedingungen zugesagt. Weil auf der Stadtteilmutter ein bisschen das Copyright der Diakonie liegt, wollten wir zum einen den Namen geändert und zum anderen auch Männern die Möglichkeit geben, wieder den Einstieg ins Berufsleben über diesen Weg zu schaffen. Sie sind schließlich auch Vorbilder.“ So waren sie geboren – die Kiezmütter und Kiezväter.
Auch mal „seelischer Mülleimer“
Heute arbeiten 17 Menschen unter dieser Berufsbezeichnung im Bezirk. Sie erklären ihren Mitmenschen den Bescheid des Jobcenters, helfen bei der Suche nach einem Kitaplatz oder nach einem Fußballverein für die Tochter, erläutern ihnen, auf welche Unterstützung sie in Deutschland ein Anrecht haben, sind „seelischer Mülleimer“, wie es Zier beschreibt, oder halten beim Zahnarzt die Hand ihres Klienten. „Die Unterstützung umfasst die gesamte Bandbreite. Manchmal müssen die Kiezmütter und -väter nur kurz beim Ausfüllen eines Formulars behilflich sein, manchmal begleiten sie ihre Mitmenschen bei nicht enden wollenden Behördengängen“, sagt die Geschäftsführerin. Und: „Der Bedarf steigt stetig.“
„Die Arbeit ist mehr geworden“, bestätigt Nilüfer Evren. Sie koordiniert die Einsätze der Kiezeltern. „Sie können an verschiedenen Tagen zu verschiedenen Zeiten an unseren sieben Stützpunkten besucht und um Rat gefragt werden. Sie leisten aber auch aufsuchende Sozialarbeit“, sagt sie und zählt auf, wo ihr Personal eingesetzt wird: in den beiden Familienzentren Jungfernheide und in der Düsseldorfer Straße, im Seeligen-Treff, beim Kiezbündnis Klausenerplatz, im „Haus der Nachbarschafft“ am Schoelerpark, im Nachbarschaftshaus am Halemweg und im Haus am Mierendorffplatz.
"Ich werde endlich wieder gebraucht“
Die Geschichte der Koordinatorin ist das beste Beispiel für den Sinn des Projektes. Die Krankenschwester war lange arbeitslos und heuerte als Kiezmutter an. Als Zier es allein nicht mehr schaffte, das Personal einzuteilen, suchte sie sich Nilüfer Evren als Unterstützung aus. „Ich war mir sicher, sie kann das organisieren.“ Damals reichte es aus, zwei Jahre beim Jobcenter als arbeitsuchend geführt zu werden, um am Projekt teilnehmen zu dürfen. „Seit Inkrafttreten des Gesetzes zur Teilhabe am Arbeitsmarkt am 1. Januar 2018 kommen nur noch Langzeitarbeitslose in Frage“, erklärt Zier. Ein halbes Dutzend Jahre und länger keine Tätigkeit mehr ausgeübt, würden die nach Mindestlohn bezahlten Kiezeltern regelrecht aufblühen. „Wir hören ganz oft Sätze wie: Ich werde endlich wieder gebraucht“, sagt Zier. In den Reihen der Kiezmütter und -väter befänden sich beispielsweise Ingenieure oder Menschen, deren Ausbildung in Deutschland nicht anerkannt wurden. Wichtig sei, dass sie zur Sozialarbeit bereit seien, sprachmittlerische Fähigkeiten besäßen und Zugang zu bestimmten Migranten-Communities hätten. „Es sind aber auch Deutsche dabei“, sagt die Geschäftsführerin. Ziel ist es, sie wieder dem ersten Arbeitsmarkt zuzuführen – so wie eben Nilüfer Evren.
Sechs Kiezeltern auf der Warteliste
Claudia Zier könnte problemlos weitere Kiezmütter und -väter einstellen und der anfänglichen Schulung unterziehen. Nicht nur, weil immer mehr Migranten das Angebot nutzen. „Mittlerweile fragen auch die AWO, die Caritas oder das Gesundheitsamt an, ob wir nicht Klienten von ihnen begleiten können“, schildert Evren. „Aber es steht immer nur ein gewisses Kontingent an Stellen zur Verfügung“, so Zier. Gerade stünden sogar sechs Kiezeltern auf der Warteliste.
Viele Geschichten wüsste sie zu berichten, erzählt Evren dann noch. Eine sei ihr besonders zu Herzen gegangen. Eine alleinerziehende Mutter von vier Kindern, türkisch-bulgarischer Herkunft, sei mit dem Alltag völlig überfordert gewesen. „Es hat über ein halbes Jahr gedauert, bis alle Kinder in Bildungseinrichtungen und Sportvereinen untergebracht waren und die Familie ein normales Leben führen konnte.“ Kurioses passiere auch, ergänzt Claudia Zier: „Ein Mann kam einmal ins Haus am Mierendorffplatz und wollte, dass ihm der Kiezvater dabei hilft, das Zollamt zu betrügen. Erst nach dem dritten Mal hat er verstanden, dass das nicht Sinn unserer Übung ist.“
Autor:Matthias Vogel aus Charlottenburg |
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