Familiär, spezialisiert, vernetzt: Kiezgeschäfte auf der Reichsstraße punkten
Westend. Kaum eine Gegend im Bezirk scheint gegen die Wirren des Wandels im Einzelhandel so resistent zu sein wie die Lebensader der Villenkolonie Westend. Nun verriet die Interessengemeinschaft Reichsstraße bei einem Rundgang mit dem Bürgermeister Geheimnisse ihres Erfolgs.
Die Tür schwingt auf, der Kunde hört nicht nur ein „Guten Tag“, sondern auch gleich seinen Namen. Haben die Mitarbeiter von „Optiker Andreas Wittig“ ein geschultes Gedächtnis? Oder kaufen hier immer die gleichen ein? Wahrscheinlich beides. Als das Geschäft am Steubenplatz 1958 an den Start ging, war noch Andreas Wittigs Vater Herr über Gläser und Gestelle. Heute ist es der Sohn. Allein bis zum Theodor-Heuss-Platz kämpfen sechs Optiker um die gleichen Pfründe. Wittig wirkt nicht so, als ob er deswegen schlaflose Nächte hätte: „Manche treiben Wettbewerb mit dem Preis, wir machen es mit Leistung“, erzählt der bezopfte Herr seinem heutigen Gast: dem Bürgermeister von Charlottenburg-Wilmersdorf.
Soziales Engagement
Und es ist nicht so, dass man Reinhard Naumann (SPD) und Wittig einander vorstellen müsste. Bei einer Verleihung der Bürgermedaille standen sie sich schon gegenüber. Denn Wittig sammelt, wenn er nicht gerade berät, auch Hygienartikel für Frauen und Kinder in Not, verschickt ausgemusterte Brillen an sehschwache Menschen in Ghana. Was ihn erfolgreich macht? Zum einen sein geschultes Personal, meint Wittig, zum anderen die Netzwerkarbeit. So ist Wittig Mitbegründer der Gruppe „Hauptstadtoptiker“ und lässt auch Treffen mit Geschäftsleuten von nebenan nicht aus. Man spricht miteinander, man kauft voneinander. Und dennoch wird es in einer Hinsicht immer schwerer: Es findet sich kaum noch ausbildungswilliger Nachwuchs: „Man muss bei der Junged beinahe auf Knien ankriechen.“
Dabei würden Neulinge am intakten Kiez der 150 Jahre alten Villenkolonie Westend Gefallen finden, glaubt Bürgermeister Naumann. Tatsächlich erkennt er einen Zuzug junger Familien, die das fortgeschrittene Durchschnittsalter allmählich senken. „Wir haben hier gewachsene Strukturen und eine vorbildliche Verbundenheit unter Nachbarn“, beschreibt Naumann das Viertel, dem er kürzlich einen Kiezspaziergang gewidmet hatte. Eineinhalb Jahrhunderte Westender Villen, das verheißt architektonische Schätze und Stoff für Gespräche. „Und jedes Haus“, betont Naumann „hat hier noch seine ganz eigene Geschichte.“ Aus dieser Geschichte ließe sich die Reichsstraße wiederum nicht wegdenken. Hier wirkt eine Interessengemeinschaft unter dem Vorsitz von Buchhändlerin Ursula Kiesling als Lobby. „Wir leben in einer Straße, in der man sich noch grüßt und kennt“, sagt Kiesling. „Wir sind die Reichsstraße.“
Persönlicher Service
Mit Stolz und Geruhsamkeit lebt man in Mietshäusern und Einfamilienhäusern beidseits der breiten Achse. Und man will sich nachts sanft betten. Das ist Kerngeschäft von „Schlaf Optimal Berlin“, nächster Halt auf der Tour. In diesem Kiezgeschäft trifft Naumanns kleine Delegation der Wirtschaftsförderung auf jemanden, den viele Kunden für ihren Enkel halten könnten. Richard Röhr, Mitte 20, Sohn eines Bettenhändlers in Dresden. Und jemand, der es mit Matratzen sehr genau nimmt. So genau, dass er die Bedürfnisse des Kunden misst. „Wir nehmen einen Körperabdruck und geben dann eine Empfehlung“, erzählt Röhr. Klar, dass es dann auch etwas teurer wird als im Bettendiscount. Aber auch Röhr würde es nicht in den Sinn kommen, Geschäfte über den Preis zu treiben.
„Wir haben hier lauter Spezialisten“, erklärt Gabriele Jahn von der IG Reichsstraße das Prinzip. „So etwas finden Kunden nicht im Kaufhaus.“ Ist die ungewöhnlich starke Spezialisierung also der Schlüssel zum Bestehen gegen Online-Versand und große Ketten?
Man kennt sich
Der Hang zum Besonderen, gepaart mit Kontaktpflege und einer persönlichen Bindung ist jedenfalls auch im „Ristorante Piccolo Mondo“ an der Tagesordnung. Hier tischt die Familie Cinque seit mehr als 40 Jahren italienische Speisen auf. Und wenn die IG Reichsstraße eine Führung durch den Kiez veranstaltet, ergibt sich hier das logische Ende. Da sitzen Ursula Kiesling, Gabriele Jahn und die Wirtschaftsförderung nun beisammen. Auch hier grüßen sich Kellner, Gäste und Geschäftsnachbarn. Andernorts merken sich die Berliner Marken – in Westend erinnern sie sich noch an die Namen. tsc
Autor:Thomas Schubert aus Charlottenburg |
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