Stiller Abschied für die Armen und Einsamen
Bernd Simon begleitet Verstorbene ohne Angehörige auf ihrem letzten Weg
Etwa 2500 Bestattungen ordnen die Gesundheitsämter jährlich an, wenn keine Angehörigen des Verstorbenen ermittelt werden können. Fast alle Urnen trägt Bernd Simon auf dem Alten Domfriedhof St. Hedwig an der Liesenstraße zu Grabe.
Bernd Simon verneigt sich vor der Urne, die auf einem kleinen Tischchen vor dem Altar der Kapelle auf dem Domfriedhof steht. Niemand ist da, leise erklingt Klassikmusik; Simon schaut auf die Urne und sagt: „Nun begleiten wir dich auf deinem letzten Weg in Gottes Namen.“ Dann nimmt er langsam die Urne und läuft zum vorbereiteten Gemeinschaftsgrab; noch eine Verneigung, „Ruhe friedlich und sanft. Amen“ und dann lässt er die Urne ab. Neunmal am Tag im Winter und zehnmal am Tag im Sommer geht das so, von montags bis freitags. Immer mit der gleichen würdevollen Zeremonie erweist der Urnenbegleiter, wie sich der 56-Jährige selber nennt, den Toten die letzte Ehre.
„70 Prozent laufe ich alleine“, sagt Simon. Eher selten sind Angehörige, Arbeitskollegen oder Freunde mit in der Kapelle, aber das gibt es natürlich auch. Die meisten Toten, die auf dem Alten Domfriedhof in Gemeinschaftsgräbern liegen, sind Menschen, für die die Behörden keine Angehörigen ermitteln konnten und das Gesundheitsamt die sogenannte ordnungsbehördliche Bestattung anordnet. Friedhofsverwalterin Galina Kalugina hat sich 2015 auf diese Amtsbestattungen spezialisiert und bietet mit 365 Euro für Beisetzung, Namensschild und 20 Jahre Liegezeit den besten Preis. Die Ämter lassen auf dem katholischen Alten Domfriedhof in Mitte, der zu Mauerzeiten Grenzgebiet war, und auf zwei weiteren katholischen Friedhöfen von Kalugina „99 Prozent aller jährlich rund 2500 ordnungsbehördlichen Bestattungen in Berlin durchführen“, wie sie sagt.
Anonym auf der grünen Wiese
37.640 Menschen sind in Berlin 2020 verstorben. Bei Toten mit bestattungspflichtigen Angehörige wie Kindern, Eltern, Geschwistern, Großeltern und Enkeln, die kein Geld für die Bestattung haben, übernimmt das Sozialamt die Kosten bis zu 1570 Euro. Laut Sozialverwaltung hat das Amt 2019 über zwei Millionen Euro für 1543 Sozialbestattungen ausgegeben. 80 Prozent aller Beisetzungen finden in Berlin in Gemeinschaftsanlagen statt, weiß Kalugina. Klassische Familiengräber gibt es kaum noch. Weil die Angehörigen sich nicht um Grabpflege kümmern wollen oder können, werden die meisten Toten anonym auf der grünen Wiese oder mit Namen in Gemeinschaftsgräbern bestattet.
Das Besondere auf dem Alten Domfriedhof ist, dass die grünen Namenschildchen oft in historischen Grabanlagen stecken. Dort liegen Arme vor prunkvollen Grabsteinen. Denn der 1834 eröffnete Domfriedhof steht unter Denkmalschutz. Die abgelaufenen Anlagen kann Galina Kalugina nutzen. Und so kommt es, dass Menschen, die nichts mehr hatten, zum Beispiel im Erbbegräbnis der Familie von Bankier Emil Russell liegen. Bettler oder Geschäftsmann – „bei uns ist jeder gleich. Wir sorgen für soziale Gerechtigkeit“, sagt Kalugina mit einem Augenzwinkern.
All diese Geschichten kennt Bernd Simon bestens. Wenn Trauergäste da sind, erzählt er nach der Beisetzung gern über die Gräber der Familie Dussmann und Adlon oder von James Cloppenburg und Bildhauer Reinhold Begas. Den Mann im schwarzen Anzug kennen viele Friedhofsbesucher. Eine Frau im Rollator grüßt Simon, setzt sich auf die Bank vor der Kapelle, beobachtet seine Arbeit durch die geöffnete Kapellentür und schaut ihm hinterher, wenn er mit der Urne zum Grab geht. Es muss etwas Beruhigendes an sich haben, Bernd Simon bei seiner Arbeit zuzusehen.
„Herr Simon hat die Zeremonie mit sehr viel Hingabe und Engagement begleitet und uns viel über die Geschichte der dort begrabenen Persönlichkeiten erzählt“, stellt ein Angehöriger in einer Google-Rezension zum Alten Domfriedhof fest. Eine Tochter schreibt nach der Beerdigung ihrer Mutter, „was für ein unsagbarer Gewinn dieser Mann für den Friedhof ist“. Soviel Mitgefühl, Empathie und Menschenwürde stünden wohl in keinem Arbeitsvertrag, heißt es in der E-Mail an die Friedhofsverwaltung.
„Etwas Einzigartiges und keine Routine“
Bernd Simon begleitet die Toten seit November 2019 auf ihrem letzten Weg. Davor war er viele Jahre Möbelpacker und hatte auch eine eigene Kneipe. Beim Bestattungsunternehmen hatte er sich eigentlich als Fahrer beworben, stand aber schon wenige Wochen später mit der Urne in der Hand auf dem Friedhof. Außer dem Namen und den Geburts- und Sterbedaten weiß er nichts über die Verstorbenen. „Die Kunst an dem Job ist, dass jede Bestattung etwas Einzigartiges ist und keine Routine“, sagt Simon und stellt die letzte Urne für diesen Nachmittag auf das kleine Tischchen vorm Altar. Auch dieses Mal ist niemand gekommen, der dem Verstorbenen die letzte Ehre erweisen möchte. Der letzte Abschiedsgruß kommt wie so oft von Bernd Simon.
Autor:Dirk Jericho aus Mitte |
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