Kämpfer gegen Kinderarbeit
Der Rixdorfer Lehrer Konrad Agahd setzte sich für die Schwächsten ein

Das Ehrengrab von Konrad Agahd auf dem Friedhof Britz I an der Buschkrugallee 38. | Foto: Schilp
  • Das Ehrengrab von Konrad Agahd auf dem Friedhof Britz I an der Buschkrugallee 38.
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„Den deutschen Kindern galt seine Liebe, seine Arbeit und sein Leben“: Diese Inschrift trägt der Grabstein von Konrad Agahd (1867-1926), der auf dem Friedhof Britz bestattet ist. Vielen gilt er als der Vater des Kinderschutzgesetzes.

Aufgewachsen mit sieben Geschwistern, eifert er seinem Vater nach und wird Lehrer. Lange lebt er in Rixdorf und unterrichtet in der 11. Gemeindeschule an der Thomasstraße, die heute seinen Namen trägt. Bei der Arbeit erlebt Agahd das Elend seiner Schützlinge. Oft schlafen sie im Klassenraum ein, fast verhungert und völlig erschöpft von der Plackerei nach oder vor der Schule.

In seiner Schrift „Kinderarbeit und Gesetz gegen die Ausnutzung kindlicher Arbeitskraft“ (1902) veröffentlicht er Daten und Zahlen, die beweisen, dass unter 14-Jährige in allen erdenklichen Bereichen schuften. Er berichtet auch von eigenen Schülern. Vom kleinen Karl, der mit den Eltern in Heimarbeit Tücher knüpft, bis weit nach 3 Uhr morgens. Die letzte, besonders harte Stunde hält ihn der Vater mit einem Glas Schnaps wach.

Oder von Kurt, der vor dem Unterricht bei Wind und Wetter Brötchen austrägt und nachmittags von einem Kaufmann als Laufbursche durch die Stadt gehetzt wird. „Punkt 10 Uhr abends gehts zu Bette. Kurt möchte wohl eher das Lager aufsuchen, aber er schläft im Bett des Bäckergesellen und dieser steht erst um 10 Uhr auf. Am Morgen um 4 Uhr ist mein Junge sogleich wieder bei der Hand. So gehts Tag für Tag“, schreibt Konrad Agahd. Seine erste wichtige Studie zur gewerblichen Arbeit von 3287 Rixdorfer Kindern erscheint 1894. Manche Leser sind schwer empört. Allerdings nicht so sehr über die unmenschlichen Lebensbedingungen der Mädchen und Jungen, sondern über Agahd. Sie wollen den unbequemen Lehrer, der auf soziale Reformen drängt, aufs Land versetzen lassen. Doch der arbeitet in Berlin weiter, forscht zu Kinderarbeit in Deutschland, Schweden, Norwegen, Oberitalien und Österreich. Er publiziert Aufsätze, Broschüren, Fachbücher und spricht auf Kongressen. 1898 werden einige Schutzmaßnahmen erlassen. Aber Agahd will mehr, zum Beispiel das Verbot von Sonntagsarbeit und der Beschäftigung in gesundheitsgefährdenden Betrieben.

Ihm ist es schließlich maßgeblich zu verdanken, dass am 1. Januar 1904 das „Gesetz, betreff Kinderarbeit in gewerblichen Betrieben“ in Kraft tritt. Danach müssen Mädchen und Jungen, die Geld verdienen, mindestens zwölf Jahre alt sein. Die Arbeitszeit wird auf drei, in den Schulferien auf vier Stunden täglich beschränkt. Zwischen 20 und 8 Uhr ist Ruhezeit. Doch das Gesetz zeigt keine große Wirkung. Erstens lässt es Ausnahmen zu: Heimarbeit, Viehhüten und Ernteeinsätze sind nicht erfasst. Dafür hat vor allem der Widerstand der ostelbischen Grundbesitzer gesorgt, die nicht auf helfende Kinderhände verzichten wollen.

Aber auch dort, wo das Gesetz greifen sollte, funktioniert es schlecht. Mehr noch: Im Ersten Weltkrieg nimmt die Kinderarbeit stark zu. Immer wieder geißelt Konrad Agahd die schlimmen Zustände. Denn sie zwingen Eltern, ihre Kinder zur Arbeit zu schicken. Sonst würde es nicht zum Leben reichen. Einige Minderjährige schuften 72 Stunden in der Woche. Manchmal müssen schon Vierjährige ran. Besonders bitter: Die neuen Vorschriften erweisen sich in den ersten Jahren sogar als hinderlich. Denn nun tarnen Familien und Unternehmer die Kinderarbeit besser. Es wird schwerer, sie zu beweisen.

Mit 46 Jahren zieht sich Agahd wegen eines Ohrenleidens aus dem Lehrerberuf zurück. Er wendet sich einem neuen Feld zu, sagt der Schundliteratur den Kampf an und gründet Zeitungen für Kinder und Jugendliche: „Hänsel und Gretel“ für die Jüngeren, „Jung-Siegfried“ und „Treuhilde“ für Ältere. Er ist in ständigem Kontakt mit seinen Lesern, beschäftigt sich mit ihren Problemen und beantwortet Briefe. Ganz nach seinem Motto: Wer Schlechtes vernichten will, muss Besseres an die Stelle setzen.

Autor:

Susanne Schilp aus Neukölln

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