Die klassische Ochsentour verliert: Professor Sebastian Braun über das "neue Ehrenamt"

Mit seinen Forschungsergebnissen möchte Professor Sebastian Braun auch den politischen Akteuren Handlungsempfehlungen geben. | Foto: Alexander Sell
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Berlin. Dr. Sebastian Braun ist Professor für Sportsoziologie an der Humboldt-Universität und forscht über bürgerschaftliches Engagement. Im Interview mit unserer Reporterin Anett Baron erklärt er, wie Wissenschaft und Engagement zusammenhängen.

Herr Professor Braun, Sie erforschen das bürgerschaftliche Engagement. Worum geht es dabei?

Sebastian Braun: Die Begrifflichkeit bürgerschaftliches Engagement ist eine Art Klammer, die vielfältige Beteiligungsformen in der Gesellschaft zusammenfasst. Das Spektrum reicht vom ehrenamtlichen und freiwilligen Engagement über das soziale und karitative Engagement bis hin zu politischen Engagements und Protesten in sozialen Netzwerken. In der Wissenschaft werden bei einem solchen Verständnis von Engagement zahlreiche Disziplinen miteinander sehr eng verbunden.

Für welche Themen sehen Sie besonderen Forschungsbedarf?

Sebastian Braun: In den vergangenen 15 bis 20 Jahren haben wir eine Menge über die individuelle Ebene herausgefunden – wer engagiert sich wie, wo und warum? Dazu gibt es viele aufschlussreiche Studien, bald zum Beispiel den nächsten Freiwilligensurvey. Man sollte künftig den Blick noch schärfer dorthin richten, wo und unter welchen Bedingungen Engagement stattfindet und wie es durch Strukturen verändert wird. Wir wissen immer noch zu wenig über Vereine, Verbände, Unternehmen, Initiativen, Protestformate und Netzwerke, auch im Online-Bereich. Diese zivilgesellschaftlichen Strukturen sind natürlich gerade auch von den dynamischen gesellschaftlichen Veränderungen betroffen.

An was arbeiten Sie gerade?

Sebastian Braun: Einen Schwerpunkt bilden Verbände und Vereine im gesellschaftlichen Wandel, die zum Beispiel vielfach mit Mitgliederverlusten und Problemen bei der Gewinnung von Engagierten konfrontiert sind. Parallel dazu organisieren sich immer mehr Menschen in loseren, spontaneren, flexibleren und auch kurzlebigeren Formaten und Netzwerken. Die seit Langem geführten Diskussionen über das „neue Ehrenamt“ werden gerade auch in Verbänden sehr intensiv verfolgt.

Worum geht es beim neuen Ehrenamt?

Sebastian Braun: Aus vielfältigen Gründen hat die generelle Bindungsbereit-schaft an verbandlich organisierte Strukturen quer durch die Gesellschaft abgenommen. Parallel dazu hat das Selbstorganisationspotenzial der Menschen zugenommen. Es wird immer effizienter genutzt und gewinnt an gesellschaftspolitischem Einfluss. Wir werden sehen, ob diese Formen der Selbstorganisation in der Zivilgesellschaft ähnlich stabile Scharniere zwischen Individuum und Gesellschaft darstellen wie das traditionelle Vereinswesen. Deren Strukturen sind häufig auf dauerhaften Mitgliedschaften und einem längerfristigen Engagement aufgebaut.

An welcher Stelle wirken ihre Forschungen?

Sebastian Braun: Vereine, Verbände, politische Akteure oder auch andere Organisationen greifen Ergebnisse dann auf, wenn sie zu einem bestimmten Zeitpunkt einen Ansatz zur Lösung von Herausforderungen versprechen. Zum Beispiel reagieren immer mehr Vereine und Verbände auf veränderte Formen der Gewinnung von Ehrenamtlichen, weil die klassische Ochsentour häufig nicht mehr so funktioniert wie früher. Was umgesetzt wird, ist vom Einzelfall abhängig. Empfehlungen werden oft erst langsam praxiswirksam.

Wie ließe sich denn das Engagement in Berlin stärken?

Sebastian Braun: In Berlin gibt es neben der Engagementförderung auf verschiedenen Ebenen auch viele Vereine, Initiativen und Projekte, die lokal in ihrem Kiez arbeiten, vielfältige Ideen und Problemlösungen entwickeln und den Sozialraum gestalten. Hilfreich wäre es, einen Überblick über die Vielfalt der Zivilgesellschaft zu gewinnen. Dann sähe man, was vorhanden ist und wo sich neue Tendenzen abzeichnen. Daraus könnte man Handlungs- und Unterstützungsbedarf ableiten.

Das wäre dann eine Art Engagementatlas?

Sebastian Braun: Durchaus. Es ginge aber um mehr als um die reine Aufzählung von Aktivitäten oder Organisationen. Gemeint ist ein breiteres Verständnis von Zivilgesellschaft, das gemeinsame Werte, Tugenden und Normen wie Demokratie, Gerechtigkeit, Solidarität verbindet. Je mehr es gelingt, ein solches Bewusstsein von Zivilgesellschaft in der Stadt zu verankern, desto mehr würde das Verständnis dafür steigen, welchen Beitrag die Zivilgesellschaft für die soziale und politische Integration der Gesellschaft leisten kann.

Autor:

Anett Baron aus Mitte

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