Eine Familiengeschichte im Haus am Kleistpark, die bis heute aktuell ist
In dieser Geschichte spielt das Reisen eine bedeutende Rolle. Doch meist nicht in seiner touristischen Variante. Es gleicht mehr dem ursprünglichen, althochdeutschen „reisa“: Aufbruch, Zug und Fahrt, verbunden mit großen Anstrengungen, mit Gefahren und Krieg.
Das (vorläufige) Ziel der Reise, von der hier die Rede sein wird, ist Schönebergs kommunale Galerie im Haus am Kleistpark; ihr Ausgangspunkt liegt zweieinhalb Kilometer Luftlinie entfernt, in der Bellevuestraße. Dazwischen liegen 177 Jahre Geschichte, Zehntausende Kilometer, fünf Generationen einer Familie und die unterschiedlichsten politischen und kulturellen Systeme.
„Ein besonderes Projekt und auch ein Experiment“ hat es die Leiterin der Kommunalen Galerien Tempelhof-Schöneberg, Barbara Esch Marowski, genannt. Es geht um Spuren und Erinnerungen, um Berlin und Rio de Janeiro.
Der in Brasilien lebende Andreas Valentin hat in einer Art Bildergeschichte die Lebenslinie seiner jüdischen Familie nachgezeichnet. Er erzählt vom Zusammenhalt und ihrem Überleben in finsteren Zeiten.
„Mir ging es nicht darum, eine Vergangenheit wiederherzustellen oder nostalgisch zu betrachten“, erklärt Kurator Valentin. „Ich habe versucht, Erinnerungen an meine eigene Geschichte auszugraben, sie ins Bild zu setzen und neu zu interpretieren.“
Fünf Jahre, nachdem er sich in Berlin niedergelassen hat, eröffnet der 26-jährige Valentin Manheimer 1841 einen der ersten Betriebe für Damenkonfektion in der Stadt. Manheimers Firma wächst rasant. In den späten 1880er-Jahren beschäftigt er mehr als 8000 Menschen. Symbol des wirtschaftlichen – und gesellschaftlichen – Erfolgs: Zu seinem 70. Geburtstag gibt Manheimers Frau Philippine beim großen Historienmaler Anton von Werner ein Gemälde ihres Gatten in Auftrag. Es ist das erste, was man als Reproduktion in der Ausstellung im Haus am Kleistpark sieht. Das Original hängt im Deutschen Historischen Museum. Zu sehen ist der Unternehmer im Kreis seiner Familie im Garten seiner Villa. Der angesehene Architekt Friedrich Hitzig hat sie in der Bellevuestraße 8 gebaut, damals eine vornehme Gegend am Großen Tiergarten.
100 Jahre nach Manheimers Karrierestart zerstört das Naziregime das Leben der Familie. Manheimers Enkel Bruno Valentin (1885-1969), ein angesehener Orthopäde, verliert nach 1933 alle seine Ämter. Zehn Jahre zuvor hatten er und seine Frau sich evangelisch taufen lassen. Das zählt bei den Nazis nicht. Bruno Valentin darf nicht mehr publizieren. Er darf bald auch nicht mehr praktizieren.
Als Bruno Valentin am 5. Juni 1937 zu einem Ärztekongress nach Rio de Janeiro reist, begleitet ihn sein Sohn Gerhard (1915-1986). Bruno kehrt vorerst nach Deutschland zurück, Gerhard bleibt – in einem Brasilien, das seit dem 19. Jahrhundert Europäer anzieht, insbesondere Deutsche, und eine Diktatur ist, die mit dem NS-Regime zusammenarbeitet.
Gerhard Valentin findet eine Anstellung als Handelsreisender für die Firma Pelikan. Ende Januar 1939, nach beschwerlichen Vorbereitungen, Schikanen und Zwangsverkauf von Wertpapieren, Auto und Immobilien, haben seine Eltern Deutschland in Richtung Rio de Janeiro verlassen.
Bruno Valentin, seine Frau Martha und Sohn Gerhard wohnen in einem großen Haus in Copacabana. „Es war ein Zuhause, in dem sich alle wohlfühlten“, sagt Andreas Valentin. Musikalische Soireen und Ausflüge zum nahen Strand zeugen „von einem positiv gestalteten Leben in der neuen Heimat“. 70 Kilometer landeinwärts, in Petrópolis, leben zurückgezogen und ohne viel Berührung mit dem Gastland der exilierte österreichische Schrifsteller Stefan Zweig und seine Frau Lotte. Als sie die Heimatlosigkeit nicht mehr ertragen, wählen sie den Freitod.
1951 werden Bruno und Martha Valentin zum ersten Mal nach Deutschland zurückkehren, die Städte besuchen, die sie bewohnt haben, und Freunde von früher treffen. 1967 ziehen sie ganz in die alte Heimat zurück. 1975 reist Sohn Gerhard mit seiner Mutter nach Berlin. Auf einer Stadtrundfahrt macht er viele Aufnahmen. Fast vier Jahrzehnte später wird Sohn Andreas Valentin die Berlin-Dias des Vaters entdecken und die Orte in der Stadt, die Vater und Großmutter besucht haben, zurückverfolgen und aus demselben Blickwinkel in Schwarz-Weiß fotografiert. Auch sie sind in der Ausstellung zu sehen.
Seine Familie habe die Herausforderungen der Emigration gemeistert, resümiert Brunos 1952 geborener Enkel Andreas Valentin, der nach wie vor in Rio de Janeiro lebt.
Die Ausstellung zeige, welche Auswirkungen Zeitgeschichte auf Individuen habe und welche Wege Menschen fänden, wenn ihre Welt auseinanderbricht, sagt Galerieleiterin Barbara Esch Marowski. „Diese Geschichte ist im europäischen zeitgenössischen Kontext aktueller denn je und verbindet sich mit Themen, die für jeden von uns heute relevant sind.“
Autor:Karen Noetzel aus Schöneberg |
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