Jahresinterview mit Bürgermeister Gordon Lemm
„Wir sind nach wie vor im Krisenmodus“

Im November 2021 wurde Gordon Lemm (45) zum Bürgermeister von Marzahn-Hellersdorf gewählt. Ob er das Amt weiter behalten wird, entscheidet sich wohl auch bei der Wiederholung der BVV-Wahl am 12. Februar. | Foto: Philipp Hartmann
  • Im November 2021 wurde Gordon Lemm (45) zum Bürgermeister von Marzahn-Hellersdorf gewählt. Ob er das Amt weiter behalten wird, entscheidet sich wohl auch bei der Wiederholung der BVV-Wahl am 12. Februar.
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Den Jahreswechsel hat Bürgermeister Gordon Lemm (SPD) an der polnischen Ostsee verbracht, um Kraft tanken zu können für ein spannendes Jahr 2023. Unter anderem wird am 12. Februar noch einmal die Bezirksverordnetenversammlung gewählt. Darüber und über weitere Herausforderungen hat er mit Berliner Woche-Reporter Philipp Hartmann gesprochen.

2022 war für Sie das erste komplette Jahr als Bürgermeister. Wie hat Sie dieses Amt verändert?

Gordon Lemm: Eine gute Frage. Ich hoffe natürlich nicht so sehr, gerade was das Thema Zugänglichkeit und Offenheit angeht. Was ich wahrnehme ist, dass Menschen einem anders begegnen, weil dieser Titel Bürgermeister schon sehr präsent ist und damit viele Menschen etwas anfangen können. Ich merke nach wie vor einen großen Respekt diesem Amt gegenüber. Gerade zum Anfang war das erst surreal, wenn man darüber nachdenkt, man ist jetzt plötzlich Bürgermeister in dem Bezirk, wo man aufgewachsen ist. Das ist wahrscheinlich eine der größten Ehren, die man haben kann. Ich hoffe, dass das nicht dazu geführt hat, dass ich in irgendeiner Art und Weise abgehoben und immer noch derselbe bin.

Was hat Sie persönlich am meisten bewegt?

Gordon Lemm: Das ist ganz eindeutig der Ukraine-Krieg gewesen. Also politisch natürlich wegen der ganzen Auswirkungen. Wir merken es ja bis heute: die Energiekrise, die darauf aufbaut, die ganze Verunsicherung, die Inflation. Natürlich hatten auch viele Menschen Angst, weil wieder ein Krieg in Europa ist. Und wegen der Situation, dass man dachte, man hat jetzt eigentlich die große Krise Corona hinter sich gelassen, kann wieder in regelhaftes Arbeiten kommen, wieder in den besseren Austausch mit Bürgerinnen und Bürgern gehen, Veranstaltungen machen etc. – und dann wieder im Krisenmodus zu sein, und das wir sind nach wie vor, hat mich schon sehr beschäftigt.

Bei welchem Projekt in Marzahn-Hellersdorf sind Sie 2022 deutlich vorangekommen?

Gordon Lemm: Beim Kombibad. Das ist ja mein Herzensprojekt und das von vielen anderen auch. Schon Ende 2021 haben wir es geschafft, dass die Bäderbetriebe sich dazu bekannt haben. Die Bäderbetriebe sind ja defizitär. Eigentlich ist eher der politische Wunsch gewesen, Strukturen ab- als aufzubauen. Doch jetzt unter der neuen Regierung war das möglich. Und jetzt wird es hier auch schon konkret. Die Bäderbetriebe sagen von sich aus, wir gehören zu den prioritär umzusetzenden Projekten. Es hat eine Bedarfsanalyse gegeben, womit wir jetzt schon zwei konkrete Varianten bekommen, wie dieses Bad ausgestaltet werden könnte. Das ist die Voraussetzung dafür, dass wir wirklich in die Umsetzung gehen können, und das finde ich wirklich sehr erfreulich. Außerdem beteiligen wir jetzt auch unsere Bürger:innen das erste Mal (das Bezirksamt hat dazu eine Internetseite veröffentlicht, Anmerkung der Redaktion). Zu sehen, dass das langsam Realität und ernstgenommen wird auch auf Landesebene und von den Bäderbetrieben, ist sehr befriedigend. Es hilft natürlich auch, wenn die Innensenatorin aus dem Bezirk kommt, denn die ist für die Bäderbetriebe zuständig.

Was ist dagegen gar nicht nach Ihren Vorstellungen gelaufen?

Gordon Lemm: Da gibt es viel. Ich hätte mir gewünscht, dass wir beim Thema Kommunikation mit Bürgerinnen und Bürgern deutlich weiter gewesen wären. Ende 2021, Anfang 2022 hatte ich mit der Pressestelle besprochen, was ich mir vorstellen würde, wie wir als Bezirksamt einfach besser und wahrnehmbar kommunizieren und informieren können. Es gehört nach meinem Empfinden zu einer der zentralen Aufgaben der Verwaltung – wir sind alle von öffentlichen Geldern hier finanziert – auch denen, die das Geld geben, nämlich unserer Bevölkerung, zu zeigen, was passiert hier eigentlich, was bieten wir an, wo könnt Ihr euch beteiligen. Da haben wir noch viel zu tun. Informiert wird häufig über einzelne Abgeordnete oder die Parteien. Ich finde aber, dass ein Bezirksamt Bürgerinnen und Bürger hier deutlich besser informieren müsste, angefangen bei Social Media. Wir haben ja gar keinen bestehenden Account.

Was haben Sie diesbezüglich noch für Ideen?

Gordon Lemm: In Gesprächen mit den Bürger:innen kam mehrfach auch der Hinweis, moderne offizielle Litfaßsäulen vom Bezirksamt einzuführen. Dass man auch im Stadtraum wahrnehmbar noch solche Informationssäulen hat. Das klingt so ein bisschen old school, weil man doch alles übers Internet machen kann. Aber wahrscheinlich gibt es so viel Informationsflut, dass nicht sichtbar ist, was ist wirklich offiziell und was nicht. Also da sind wir überhaupt nicht da, wo ich gerne schon gewesen wäre. Das liegt auch ein bisschen an der personellen Situation in unserer Pressestelle und ist auf jeden Fall etwas, das ich 2023 angehen will. Es gehört einfach zu einer Verwaltung, dass sie ordentlich kommuniziert, und das können wir momentan nicht.

Am 12. Februar wird die Wahl zum Abgeordnetenhaus und zu den Bezirksverordnetenversammlungen wiederholt. Machen Sie sich Sorgen um Ihre Wiederwahl?

Gordon Lemm: Jein. Rechtlich ist es so geregelt, dass Bezirksamtsmitglieder zum einen mit zwei Dritteln der nominellen Stimmen in der BVV abgewählt werden müssen. Zum anderen brauchen sowohl Stadträt:innen als auch Bezirksbürgermeister:innen mindestens 50 Prozent plus eins, um gewählt zu werden. Das heißt, selbst wenn es hier Verschiebungen gibt in der einen oder anderen Größenordnung, heißt es nicht, dass sich dadurch konkret etwas ändert. Also zwei Drittel aller (neu gewählten) Bezirksverordneten müssten sich klar sein: Wir wählen das komplette Bezirksamt ab. Ansonsten gibt es die Kontinuität, die zum Anfang der Wahlperiode mit der Wahl bestätigt worden ist. Deswegen wäre es besser gewesen, das Landesverfassungsgericht hätte gesagt, es gibt einfach eine komplette Neuwahl.

Noch mal konkret: Sehen Sie sich nach dem 12. Februar weiterhin auf dem Chefsessel hier in Marzahn-Hellersdorf?

Gordon Lemm: Als Wahlkämpfer sage ich natürlich: selbstverständlich. Als Demokrat muss ich sagen, dass ich natürlich die Wahlen abwarten muss. Und jegliche Prognosen in die eine oder andere Richtung wären auch ein bisschen respektlos dem Wähler oder der Wählerin gegenüber, denn wir kämpfen ja gerade darum, dass wir entsprechend Stimmen bekommen. Aber vom Grundsatz her aus den eben genannten Gründen gehe ich erstmal davon aus, ja.

Ärgert es Sie, dass Sie gerade in der Winterzeit noch mal antreten und Wahlkampf machen müssen?

Gordon Lemm: Ich kenne wenige Parteien oder Menschen aus Parteien, und zwar der verschiedensten politischen Richtungen, die sich gerade auf den Wahlkampf freuen. Ich kenne auch wenige Bürgerinnen und Bürger, die sich freuen, dass der Wahlkampf kommt. Darauf gewartet hat niemand.

Welches Thema wird Sie 2023 kommunalpolitisch am meisten beschäftigen, abgesehen vom Kombibad?

Gordon Lemm: Erstens: die Frage der Finanzen. Wir haben nach wie vor die Situation, dass wir bei den Hilfen zur Erziehung, also im Jugendbereich, ein großes strukturelles Defizit haben, also viel weniger Geld bekommen, als wir eigentlich benötigen für diese Gesetzesleistung. Unser Budget ist begrenzt, und wenn wir mit einem Minus in das Jahr 2024 gehen, muss irgendwo etwas weggenommen werden. Das wird eine ganz große Herausforderung 2023, nicht im sozialen Bereich zu sparen und bei Jugend und Familien. Innerhalb des Bezirkes, mit den verschiedenen Parteien und Fraktionen, die dann neu gewählt sind, aber auch hier im Bezirksamt einen Kompromiss hinzubekommen, mit dem dann alle irgendwie leben können, ohne spürbar Leistungen für Bürgerinnen und Bürger einzuschränken, das muss das oberste Ziel sein.

Und zweitens?

Gordon Lemm: Das Thema Personal. Wir müssen dahinkommen, dass ab dem Zeitpunkt, wenn eine Stelle frei ist, bis zum Zeitpunkt, wo jemand ein Stellenangebot bekommt, maximal ein halbes Jahr vergeht. Momentan sind wir sehr häufig bei über einem Jahr, und das ist nicht akzeptabel. Da sind wir auch keine Konkurrenz zur freien Wirtschaft. Wir müssen als Bezirksamt konkurrenzfähig werden und generell attraktiver. Und drittens: Ich bin nach wie vor zuversichtlich, dass wir unser viertes Bürgeramt bekommen. Dafür werde ich an entscheidender Stelle weiter werben.

Warum braucht Marzahn-Hellersdorf dieses vierte Bürgeramt unbedingt?

Gordon Lemm: Weil wir mehr Bürgerinnen und Bürger geworden sind, weil wir früher mal fünf hatten und heute einer der wenigen Bezirke sind, die nur drei haben. Vergleichsbezirke wie Reinickendorf oder auch Lichtenberg haben vier oder fünf.

Autor:

Philipp Hartmann aus Köpenick

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