"Die Vielfalt ist immer wieder toll!
Interview: Rück- und Ausblick mit Bürgermeister Reinhard Naumann (SPD)
Die Spanne wichtiger politischer Themen im Bezirk ist weit. Integration, Mangel an bezahlbarem Wohnraum und Verkehr werden der Führungsriege im Rathaus auch in Zukunft alles abverlangen.
Berliner-Woche-Reporter Matthias Vogel sprach mit Bürgermeister Reinhard Naumann (SPD) über das abgelaufene und die Herausforderungen im neuen Jahr.
Wenn Sie auf 2019 zurückblicken, was schießt Ihnen dann als Erstes durch den Kopf?
Reinhard Naumann: Es war wieder ein sehr intensives und spannendes Jahr. Mit Freude habe ich festgestellt, dass der Bezirk weiterhin von sehr viel ehrenamtlichem Engagement geprägt ist. Es sind die vielen klugen Köpfe, die Charlottenburg-Wilmersdorf so bunt und lebenswert machen. Diese Kreativität und Vielfalt ist einfach immer wieder toll.
Wo lagen die Herausforderungen für Sie und Ihre Mitarbeiter?
Reinhard Naumann: Da gab und gibt es viele. Aber ich will schon noch einmal in Erinnerung rufen, dass die Anforderung an uns alle, die hauptsächlich in 2015 zu uns geflüchteten Menschen zu integrieren, noch immer besteht. Die Ansage der Bundeskanzlerin: „Wir schaffen das!“ habe ich damals unterschrieben. Aber Integration funktioniert nicht auf Knopfdruck, sondern ist ein Prozess. Es herrscht verständliche Ungeduld. Auf der einen Seite von denjenigen, die sich integrieren wollen, weil Deutschland ihr neues Zuhause ist, auf der anderen Seite die der einheimischen Bevölkerung, weil bestimmte Handlungen nicht immer gleich rund laufen.
Wie begegnen Sie dieser Aufgabe?
Reinhard Naumann: Das Wort Willkommenskultur mag in Vergessenheit geraten sein. Für mich war es aber nie ein Modebegriff, sondern eine Haltung. Ganz viele Menschen im Bezirk haben diese Haltung ebenfalls und engagieren sich für den interkulturellen Brückenbau, damit Integration gelingt. Für 2020 befinden sich dazu wieder 650.000 Euro im Integrationsfonds, womit wir zum großen Teil die „Ulme 35“ und das „Haus der Nachbarschafft“ im Volkspark Wilmersdorf unterstützen – Leuchtturmprojekte und Begegnungszentren, die Menschen unterschiedlicher Kultur, Herkunft, Erfahrung und Sprachkompetenzen zusammenbringen. Zur gelungenen Integration trägt auch der interreligiöse Dialog bei, den wir intensiviert haben und pflegen.
Sie wirken stets berührt und sehr engagiert, wenn es um Integration im Speziellen und um das gesellschaftliche Miteinander im Allgemeinen geht. Woher kommt das?
Reinhard Naumann: Das ist tatsächlich eine Herzensangelegenheit von mir, auch wenn alle Beteiligten wissen, dass wir in Charlottenburg-Wilmersdorf nicht den Weltfrieden wuppen können. Das habe ich zum einen als Sohn eines evangelischen Pfarrers bestimmt in die Wiege gelegt bekommen, zum anderen hat mich an der Stelle die SPD-Mitgliedschaft mit Tausenden Diskussionen und das permanente Ringen um ein solidarisches Miteinander, Gerechtigkeit und Gleichberechtigung geprägt.
Im vergangenen Jahr prangerten Sie in diesem Zusammenhang den Umgang der Menschen miteinander an, gerade im öffentlichen Straßenverkehr. Wie bewerten Sie den Status quo?
Reinhard Naumann: Berlin wächst, die City West wächst. Das ist mit Stress verbunden und mitunter mit vollen Straßen, vollen öffentlichen Verkehrsmitteln und vollen Supermärkten. Dort, wo sich viele Menschen begegnen, muss jeder einzelne dafür sorgen, dass die Regeln, die wir uns gegeben haben, auch eingehalten werden. Als Bürger selbst nehme ich da seit geraumer Zeit mit großer Sorge eine dramatische Erosion wahr. Gerade im Straßenverkehr greift das vermeintliche Recht des Stärkeren um sich. Die Verantwortung, wie wir einander im öffentlichen Raum begegnen, kann nicht auf Frau Merkel, Herrn Müller oder ein Herrn Naumann abgeladen werden. Ich habe mit dafür Sorge getragen, dass unser Ordnungsamt personell besser ausgestattet worden ist. Aber jeder einzelne ist gefordert, dem nachfolgenden Mitbürger die Tür aufzuhalten, anstatt sie ihm vor den Latz knallen zu lassen, oder einfach einmal ein Lächeln zu schenken. Eigentlich gar nicht so schwer.
Der Personalaufwuchs im Rathaus war auch ein großes Thema in 2019, gerade das von Ihnen initiierte Zentrale Bewerberbüro (ZBB) stand in der Kritik, weil es nur schleppend besetzt werden konnte. Wie sehen Sie das?
Reinhard Naumann: Wachsende Stadt heißt ja auch wachsende Verantwortung. Nach 15 Jahren Sparzwang und Personalabbau sind wir wieder in der Lage, einzustellen und uns dieser Verantwortung zu stellen. Für mich war schon beim Amtsantritt 2011 klar, dass wir ein ZBB brauchen. Wir sind nach Neukölln der zweite Bezirk, der diese Weichenstellung vorgenommen hat und ich bin wirklich glücklich, dass wir das Büro mit elf Stellen endlich vollständig besetzt haben. 2019 hatte das ZBB rund 8000 Bewerbungen auf dem Tisch, das muss man erst einmal sortiert bekommen, deswegen braucht es auch hinter den Kulissen mehr Personal. Ich weiß, dass einige ungeduldig waren, ich war es ja auch.
Kann der Bezirk sich also schnell seiner Personalsorgen entledigen?
Reinhard Naumann: Schön wär’s! Es gibt aber unverändert Bereiche, wo die Bezirke nicht mehr wettbewerbsfähig sind – insbesondere die Berufsgruppe der Ärzte im öffentlichen Gesundheitsdienst. Das Problem ist nicht allein in den Rathäusern zu lösen, da sind wir auf die Unterstützung des Senats und des Parlaments angewiesen. Spezialisten verdienen außerhalb einer Bezirksverwaltung deutlich mehr Geld, auch hier ist es ein Balanceakt, geeignetes Personal an Bord zu bekommen. Die Hälfte unserer IT-Spezialisten etwa ist zum Premium-Wettbewerber Deutscher Bundestag gewechselt. In Teilbereichen stehen auch Land und Bezirk in Konkurrenz, der private Sektor ist sowieso eine ganz andere Welt. Dazu steht uns eine Ruhestandswelle bevor. Wir sind also alles andere als sorgenfrei, deswegen haben wir uns ja auch als erster Bezirk in das Projekt „Berlin braucht dich!“ eingeklinkt und betrachten die interkulturelle Öffnung der Verwaltung als einen von mehreren wichtigen Strängen. Wir müssen für junge Arbeitssuchende, gerade auch aus Einwanderungsfamilien, attraktiver werden. In Sachen Vereinbarkeit von Beruf und Familie sind wir bereits auf einem sehr guten Weg. Derzeit prüfen wir, ob wir Räumlichkeiten für einen Betriebskindergarten herrichten können. Zudem stehen für die dringend erforderliche Sanierung des Rathauses Charlottenburg 23 Millionen Euro zur Verfügung. Dabei hat die Modernisierung der Aufzüge oberste Priorität. Mobiles Arbeiten ist auch ein Thema für uns. 40 Berufsjahre der gleiche Aktenschrank nebst Gummibaum, da gehen die jungen Leute nicht mehr mit.
Die Suche nach bezahlbarem Wohnraum wird neue wie alte Charlottenburger und Wilmersdorfer weiterhin beschäftigen. Gibt es in Ihrem Bezirk Ansätze, ihnen dabei zu helfen?
Reinhard Naumann: Wir haben den Milieuschutz geschärft. Er konnte teilweise für das Gebiet um den Klausenerplatz erreicht werden. Wobei es für mich überraschend war, dass externe Gutachter nicht für das gesamte Quartier die Kriterien erfüllt sehen. Umso wichtiger finde ich als sozialdemokratischer Bürgermeister, dass Rot-Rot-Grün auf Landesebene den Mietendeckel beschlossen hat, bei allen rechtlichen Risiken, die damit verbunden sind. Die Hauptstadt braucht hier dringend eine Atempause, letztendlich werden die Gerichte bewerten und entscheiden. Ich hoffe, dass sie den politischen Gestaltungswillen auch juristisch bestätigen. Bei einer ungestörten Renditemaximierung, die am Ende dazu führt, dass weite Teile Berlins sich nur Reiche leisten können, darf die Politik nicht einfach achselzuckender Zaungast sein.
Die Opposition hält Wohnungsneubau für die richtige Antwort auf die Mietpreisentwicklung …
Reinhard Naumann: Wir wissen alle: Wohnungsbau geht auch nicht auf Knopfdruck und insbesondere der Bau bezahlbarer Wohnungen ist bei uns angesichts von hohen Boden- und Baupreisen nur noch schwer zu realisieren. Im Bezirk geht es also eher um Verdichtung durch die Schließung von Baulücken, auch wenn diese subjektiv als lieb gewonnene Oasen betrachtet werden. Das Allgemeinwohl muss handlungsleitend sein, deshalb hoffe ich auch, dass das Bezirksparlament im ersten Quartal 2020 endlich die Weichen auf Realisierung des Neubauvorhabens auf der Cornelsenwiese in Schmargendorf stellt. Positiv ist, dass mittlerweile bei den meisten Projektierungen das studentische Wohnen berücksichtigt wird.
2019 hat die BVV beschlossen, den Klimanotstand für den Bezirk auszurufen. Was bedeutet das für die Verwaltung und Politik und was würden Sie gerne der Bevölkerung mit auf den Weg geben?
Reinhard Naumann: Mittlerweile hat das Land ja ebenfalls den Klimanotstand erklärt. Jedes politisches Handeln muss nun auf seine Auswirkungen auf die Umwelt hin überprüft werden. Dienstreisen sollen möglichst klimaneutral erfolgen, also mehr mit der Bahn und weniger mit dem Flieger. Mein neues Dienstfahrzeug wird ein Hybrid mit E-Plakette sein. Ich selber versuche privat, weniger Müll zu produzieren. Uns allen gemeinsam rate ich, genauer hinzugucken, was notwendig ist und worauf sich auch verzichten lässt. Das gilt vor allem für Plastik.
Der Umbau des Autobahndreiecks Funkturm, der Neubau der Rudolf-Wissell-Brücke, ein möglicher Abriss der Autobahnbrücke über den Breitenbachplatz und die Inbetriebnahme des Flughafens BER werden den Verkehr im Bezirk maßgeblich verändern. Welche Folgen erwarten Sie?
Reinhard Naumann: Hoffentlich von der Eröffnung des BER abgesehen, enthält Ihre Frage zutreffend eine zeitliche Abfolge. Es wird also weitestgehend nacheinander zu den sehr umfangreichen Baumaßnahmen kommen. Noch befinden wir uns allerdings erst in der frühen Planungsphase des Autobahndreiecks Funkturm, wo wir gemeinsam mit dem Siedlerverein Eichkamp erwarten, dass unsere Änderungsvorschläge positiv beantwortet werden. Ab Baubeginn wird es natürlich Stau bedeuten. Aber ich bin da zuversichtlich: Die Berliner sind sehr helle, sich neue Fahrwege zu erschließen oder auf öffentliche Verkehrsmittel umzusteigen.
Autor:Matthias Vogel aus Charlottenburg |
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