„Neukölln hat zwei Gesichter“
Bürgermeister Martin Hikel über Drogenprobleme, Verkehrspolitik und den Campus Rütli

Martin Hikel ist seit März 2018 Bürgermeister. Zuvor arbeitete er als Mathematik- und Politiklehrer. | Foto: Schilp
  • Martin Hikel ist seit März 2018 Bürgermeister. Zuvor arbeitete er als Mathematik- und Politiklehrer.
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Was hat Neuköllns Bürgermeister im vergangenen Jahr beschäftigt? Welche Aufgaben stellen sich im neuen? Darüber hat unsere Reporterin Susanne Schilp mit Martin Hikel (SPD) gesprochen.

Worüber haben Sie sich 2019 am meisten geärgert?

Das ist einfach: Über die Verwahrlosung. Rücksichtsloses und umweltschädigendes Abladen von Müll auf den Straßen, aber auch den Zustand der U-Bahnhöfe, besonders krass entlang der Linie 8. Ein Dauerthema ist das Verhalten im Straßenverkehr, ob nun im Weg rumstehende E-Scooter, Falschparken oder drängelnde Autofahrer. Ich will ein Neukölln mit Rücksicht und Verantwortung. Deshalb ärgere ich mich wirklich darüber, dass einige wenige sich danebenbenehmen und die Lebensqualität aller beeinträchtigen. Das ist Ärger und Ansporn, hier nicht nachzulassen, zugleich.

Und was hat Sie dieses Jahr gefreut?

Das ist nicht so einfach, weil viel Erfreuliches passiert ist. Wir sind mit Bauprojekten vorangekommen. Wir haben endlich mit dem Neubau der Clay-Schule in Rudow angefangen. Straßen und Plätze, wie der Böhmische Platz, wurden umgestaltet, das Ordnungsamt gestärkt. Mit dem Vorkaufsrecht wurden Mieter im Bezirk geschützt, wichtige Entscheidungen für mehr Sicherheit wurden getroffen. Und noch unzählige kleine Dinge mehr. Am Ende waren es aber tausende Begegnungen mit Neuköllnerinnen und Neuköllnern, die mich am meisten gefreut haben. Ich lerne daraus, was in den Kiezen los ist, wo wir besser werden können, aber auch, was schon gut läuft. Egal, ob ich mit Kleingärtnern, mit alleinerziehenden Müttern oder Unternehmern spreche: Ich spüre, wie sehr sich Menschen für ihre Mitmenschen, ihr Umfeld einsetzen. Das ist so ein wahnsinniger Schatz in unserem Bezirk.

Problem Heroin

Was ist die größte Herausforderung im neuen Jahr?

Wir müssen die Spirale aus Drogenkonsum, Verwahrlosung des öffentlichen Raums und menschlichem Elend beenden. Ich will nicht mehr über Zuständigkeiten diskutieren, sondern gemeinsam mit anderen Lösungen finden. Offener Heroinkonsum zum Beispiel ist nicht allein das Problem eines Bezirks, der Polizei, der BVG oder von Sozialarbeitern. Das ist ein Problem der ganzen Stadt – und so müssen wir da auch ran. Ich habe kein Geheimrezept, aber ich werde jedenfalls nicht dabei zusehen, wie sich manche hinter der angeblichen Unzuständigkeit verstecken.

Woran knüpfen Sie die höchsten Erwartungen?

An neue Wege in der Verkehrspolitik. Da geht es um viel mehr als ein paar Meter Fahrradweg. In Rixdorf setzen wir 2020 viele Maßnahmen zur Verkehrsberuhigung um, für den Reuterkiez planen wir gerade ein Verkehrskonzept. Auch in Buckow und Rudow ist Verkehrsberuhigung zu Recht ein Thema, gerade angesichts von Neubauten und einem wachsenden Umland. Sollte der BER tatsächlich öffnen, werden wir sehen, dass der Ausbau der U7 unvermeidlich ist, um den Menschen eine verlässliche Alternative zum Auto zu bieten. Hier gilt es, weitere aufrechte Verbündete und Partner zu finden.

Ich merke: Menschen fühlen sich in ihrem Kiez wohl, wenn sie sich sicher bewegen können. Wenn wir einen Straßenabschnitt sperren, werden dort nachbarschaftliche Begegnungen möglich. Ich werde aber in Neukölln keinen Kulturkampf vom Zaun brechen – Autofahrer gegen Radfahrer. Dafür ist das Thema viel zu komplex. Es kann nicht die eine Lösung geben, sondern man muss den gesamten Bezirk mit all seinen Bedürfnissen im Blick haben.

Neukölln, zumindest der Norden, hat zwei Gesichter. Einerseits soziale Not, Armut, Bildungsferne. Andererseits Szeneviertel und krass steigende Mieten, die sich nur noch Besserverdienende leisten können. Wo sehen sie den Bezirk in zehn Jahren?

Ich denke gerade daran, wie der Bezirk noch vor zehn Jahren gesehen wurde. Da hatte die halbe Republik den Eindruck, man könne sich nach Sonnenuntergang nicht auf die Straße trauen. Wer hätte damals gedacht, wie sich Neukölln verändert? Deshalb kann ich keine Prognose abgeben.

Aber so viel sei gesagt: Wir haben gelernt, Chancen zu geben. Alles dafür zu geben, dass Kinder es schaffen, sich ein eigenes Leben aufzubauen, auch wenn ihre Eltern nicht in Deutschland geboren oder arbeitslos sind. Aber ich will noch mehr. Ich will, dass in zehn Jahren kein Kind mehr die Schule ohne Abschluss verlässt. Wir haben die Chance, integrationspolitische Fehler aus der Vergangenheit nicht zu wiederholen. Das zeigt sich auch an geflüchteten Familien. Hunderte Kinder sind super integriert, sprechen perfekt Deutsch, sind in Vereinen aktiv. Das müssen wir nutzen.

Berlin wird Teil einer Metropolregion

Ein guter Schulabschluss alleine reicht aber nicht, um im Kiez eine Wohnung finden.

Richtig. Deshalb habe ich, genau wie viele andere, große Erwartungen an den Mietendeckel. Wir müssen sehen, ob sie sich erfüllen. Sicher ist allerdings: Am Ende hilft nur bauen, bauen, bauen. Denn trotz der angespannten Lange kommen Menschen hierher, die auf den Markt drücken. Neukölln wird enger mit Schönefeld und Großziethen zusammenwachsen, wir sind Teil einer entstehenden Metropolenregion. In Neukölln selbst haben wir kaum mehr Platz, deshalb wird in Brandenburg mehr entstehen müssen. Und dazu gehört dann auch eine bessere Infrastruktur – und da sind wir wieder bei der Verlängerung der U7.

Besonders im Weserkiez sind die Mieten stark gestiegen. Mittendrin liegt der neue Campus Rütli, gedacht als Modellschule für eine schwierige Gegend. Ich behaupte: Wenn alles fertig ist, profitieren nicht Kinder von Arbeitslosen oder Arbeitern von der Schule, sondern Kinder von gutgestellten Eltern. Was sagen Sie dazu?

Ich teile das nicht. Ja, der Kiez hat sich gewandelt. Aber die Familien, die dorthin gezogen sind, hätten ihre Kinder früher niemals auf die alte Rütlischule geschickt. Sie wären per Elterntaxi in die Nachbarbezirke kutschiert worden. Stattdessen ist es gelungen, dass heute junge Menschen aus dem Kiez mit den verschiedensten Biografien und Elternhäusern gemeinsam auf dem Campus ihr Abitur machen. Das ist die Mischung in den Klassenzimmern, von der wir vor 15 Jahren nur träumen konnten.

Im Übrigen gibt es in fast allen Kiezen Probleme, die die Kinder auch mit in die Schule bringen. Die Lehrkräfte, die Erziehenden – alle arbeiten hart dafür, ihnen beste Chancen zu ermöglichen. Wie werden weiterhin unseren Schwerpunkt auf die Schulen und Bildungseinrichtungen legen.

Letzte Frage: Wenn Neukölln ein Musikstück wäre, welches wäre es?

Für die Schwarzmaler dürften das immer noch Songs von selbsternannten Gangsterrappern sein. Meine Vorstellung ist heiterer: Vor ein paar Wochen haben die Rixdorfer Perlen, die drei großartigen Künstlerinnen aus dem Heimathafen, „König von Deutschland“ neu aufgelegt. Gibt es bei Youtube zu sehen. Und ich durfte sogar die Fahne vom Rathaus-Balkon aus schwenken.

Autor:

Susanne Schilp aus Neukölln

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